top of page

Lastete ihm die Krone?

Aktualisiert: 25. Nov. 2022

Louis XV ist als einziger französischer König in Versailles geboren und gestorben. Eine Ausstellung im dortigen Schloss sucht die Figur des scheuen Herrschers zu enträtseln.



Zwischen dem flamboyanten Sonnenkönig und dem unter dramatischen Umständen um Krone und Haupt gekommenen Louis XVI ist Ludwig XV. (1710 bis 1774) etwas in Vergessenheit geraten. Und das trotz seiner fast sechs Jahrzehnte umspannenden Herrschaft, die den größten Teil des Zeitalters der Aufklärung abdeckt – die Lebensdaten von Diderot und Rousseau überschneiden sich ziemlich exakt mit jenen des Monarchen. Nach dem Ende der in Paris verbrachten Régence zog der Kindkönig 1722 nach Versailles zurück. Aus Anlass des Dreihundertjahrjubiläums dieses Residenzwechsels präsentiert das dortige Schloss jetzt eine große monografische Ausstellung. Mit der Figur des Monarchen erwacht hier eine ganze Epoche wieder zum Leben.


Ansicht der Ausstellung. Die Marmorbüste aus dem Atelier von Augustin Pajou zeigt Louis-Ferdinand de France (1729-1765), den einzigen Sohn von Louis XV, der das Erwachsenenalter erreichte. Bevor er an Lungentuberkulose starb, zeugte er acht Kinder, unter ihnen die künftigen Könige Louis XVI, Louis XVIII und Charles X. (Bild: © château de Versailles / T. Garnier)

„Leben“ ist indes kein Wort, das man spontan mit Louis XV assoziierte. Die in seiner Gegenwart ohnehin oft schon stockende Konversation brachte der neurasthenische Hypochonder mit morbiden Monologen über Krankheiten, Begräbnisse und Autopsien gern vollends zum Verstummen. Folgen seiner „Friedhofs-Kindheit“, mit deren trister Evokation das erste, der Privatperson des Königs gewidmete Kapitel anhebt? Kurz nach der Geburt des künftigen Louis XV starben dem greisen Louis XIV die Familienmitglieder wie die goldgefiederten Fliegen weg. Als der Sonnenkönig 1715 seinerseits das Zeitliche segnete, hatten Infektionskrankheiten von drei Generationen direkter Erben lediglich den einen Urenkel am Leben gelassen. Ein Bild aus der Wallace Collection zeigt diesen neben Vater, Großvater und Urgroßvater unter der Obhut der Gouvernante. Mme de Ventadour verteidigte den Dreikäsehoch im Jahr der Masernepidemie am Hof 1712 verbissen gegen die Quacksalber, die schon den älteren Bruder erfolgreich zu Tode kuriert hatten. Der Kleine genas und wuchs zu einem Miniatur-Monarchen heran, den selbst der krittelige Duc de Saint-Simon als „ernsthaft, majestätisch und zugleich so hübsch wie nur vorstellbar“ preisen musste. Eine Marmorbüste von Antoine Coysevox beglaubigt die Beschreibung.


Nicolas de Largillière und seinem Atelier zugeschrieben: Madame de Ventadour mit Louis XIV und seinen Erben (Bild: © château de Versailles / Christophe Fouin)
Antoine Coysevox: Louis XV im Alter von fünf Jahren (Bild: © The Frick Collection)

1725 mit der Polin Marie Leszczyńska vermählt, die damalige Drahtzieher aus langen – in der Schau gezeigten – Listen europäischer Prinzessinnen gezielt ausgewählt hatten, weil sie scheu, schlecht vernetzt und frömmlerisch war (so Jean-Christian Petitfils, Autor einer Standardbiografie von Louis XV), zeugte der junge Monarch innert zwölf Jahren zehn Kinder. Deren Porträts sind in Versailles jenen von Enkeln gegenübergestellt, unter denen sich drei künftige Könige finden, die alle durch eine Revolution vom Thron gejagt wurden: die Brüder Louis XVI, Louis XVIII und Charles X. Noch fulminanter ist die Konfrontation zwischen einer altarbildähnlichen Ansammlung goldenen Kirchengeräts um eine Anbetung von François Boucher und Sektionen, die Louis XV als Genießer am Tisch wie im Bett zeigen. Ein vollständiges Silberservice und Porzellankreationen der Manufakturen von Vincennes und Sèvres evozieren so die berühmten „soupers des cabinets“, wo der König im kleinen Kreis aufblühte. Gemälde, Skulpturen, Kameen und Siegel verweisen auf die skandalumwitterten Liebschaften mit vier der Nesle-Schwestern ab 1733, mit Mme de Pompadour zwischen 1745 und 1764, endlich mit Mme Du Barry ab 1768. Der gesalbte Lüstling, tiefgläubig und eifrig praktizierend, war sich des Widerspruchs zwischen den Geboten der römisch-katholischen Religion und dem eigenen Lebenswandel so schmerzhaft bewusst, dass er jahrzehntelang aufs Beichten verzichtete.


Das zweite Kapitel thematisiert die Interessen des Königs. Wie viele Herrscher war Louis XV ein Protektor der Wissenschaften. Er las viel, richtete im Herzen all seiner Residenzen Bibliotheken ein, war im Unterschied zu seinem Vorgänger wie zu seinem Nachfolger aber kein Bibliophiler. Hingegen hatte er eine Leidenschaft für Botanik und ließ sich bei den Trianon-Lustschlössern den größten Garten Europas anlegen. In Glashäusern reiften dort exotische Gewächse wie Reis, Tee, Kaffee und Kakao sowie eine Sensation namens „Ananas“ heran - großformatige Gouachen auf Velinpapier illustrieren diese Passion. Doch begeisterte sich der König auch für Himmelskörper und Uhrwerke, für Optik und Mechanik – nicht zu vergessen die Fee Elektrizität, die 1746 eine spektakuläre Audienz im Spiegelsaal erhielt: Hundertvierzig Wachmänner ließen sich bei einer Demonstration vor dem Königspaar schocken, einander bei den Händen haltend. Von der Baulust des Monarchen endlich zeugen Zeichnungen und Pläne der heutigen Place de la Concorde und des Panthéon in Paris, des Petit Trianon in Versailles, der Place Stanislas in Nancy...


Carle Vanloo: Die Straussenjagd (Bild: © RMN-Grand Palais / Hervé Lewandowski)

Doch große die Leidenschaft des Herrschers war die Jagd. Louis XV trieb diesen traditionellen Zeitvertreib des Adels bis zum Exzess. Er jagte fast täglich, bei Wind und Wetter, erschöpfte Pferde wie Gefolgsleute, erlegte in den drei Jahrzehnten bis zu seinem Tod allein sechstausend Hirsche! Als Jüngling ließ er den Tiermaler Jean-Baptiste Oudry acht seiner liebsten Hunde und sogar einen „Le Général“ getauften schwarzen Kater porträtieren. Später bestellte er – bezeichnenderweise bei Vertretern des noblen Genres der Historienmalerei – neun Jagdbilder mit Elefant und Krokodil, Löwe und Leopard, Stier und Strauss. Diese Blutbäder in Öl hängen in der Schau in einer Nachbildung der „galerie des chasses exotiques“, die sich zwischen 1735 und 1767 unter den Dächern von Versailles befand, bevor Mme Du Barry die entsprechenden Räumlichkeiten bezog.


Das letzte Kapitel trägt den Titel „Louis XV et les arts“. Befasst sich der herausragende Katalog auch mit den Bühnenkünsten, mit Skulptur und Malerei, so fokussiert die Schau auf angewandte Kunst. Dies mit gutem Grund: Ins Theater setzte Louis XV kaum je den Fuß, einen Kenner der bildenden Künste mag man ihn ebenfalls nicht nennen. Doch was Mobiliar und Innenausstattung betrifft, gab es tatsächlich einen Louis XV-Stil. Dieser wird in Frankreich auch „style Pompadour“ genannt, nach der Mätresse, die zwanzig Jahre lang die Kunstschreiner Oeben und Vanrisenburgh unterstützte oder die Brüder Martin, Magier der Lacktechnik. Mme de Pompadour schuf zwar keinen Stil, aber sie förderte den Siegeszug des „style rocaille“, der französischen Spielart der europaweiten Rokoko-Bewegung. Deren Charakteristika illustriert eine reiche Auswahl von Leuchtern, Vasen und Möbeln: Füllhorn-Effekt durch Anhäufung, Schwindel der Kurven und Spiralen, Faszination für Organisches, Maritimes, Muschelähnliches. Neben Spitzenwerken wie Antoine-Robert Gaudreaus' durch goldflammendes Wurzelwerk überwucherter Kommode für das Schlafzimmer des Königs oder der legendären astronomischen Pendeluhr des Herrschers zeigt die Schau auch Chinavasen und Tierfiguren aus Meißen, die mithilfe von Bronzemonturen und Porzellanblumen in zeittypisch profuse Kompositionen verwandelt wurden.


Jacques Caffieri, Robert-Antoine Gaudreaus: Kommode (Bild: © Wallace Collection, London, UK / Bridgeman Images)
Claude-Siméon Passemant, Louis Dauthiau, Jacques und Philippe II Caffieri: astronomische Pendeluhr (Bild: © Château de Versailles, Dist. RMN C. Fouin)

Hier sollte der Abstecher nach Versailles indes nicht enden. Besuchern der Schau sei dringend geraten, im Dauerparcours des Schlosses durch das Appartement du Dauphin und jenes von Mesdames zu flanieren (einem Großvater respektive vier Töchtern von Louis XV). Diese quellen über von Gemälden der gefragtesten Hofmaler der Zeit (Drouais, Nattier, Oudry...), von Möbeln von Carlin, Gaudreaus und Joubert, von Rocaille-Holztäfelungen von Rousseau Vater und Verberckt. Damit nicht genug, wurde jüngst im Herzen des Schlosses das akribisch restaurierte Appartement von Madame Du Barry eröffnet. Bei einer Führung im kleinen Komitee (eine Reservierung ist nötig) kam die guide-conférencière Séverine Brunel auf die Schwierigkeiten des „remeublement“ zu sprechen: „Nach dem Sturz der Monarchie 1792 wurden fast alle königlichen Möbel versteigert, viele gelangten nach England oder in die Vereinigten Staaten. Durch Ankäufe, Schenkungen und Vermächtnisse konnten elf Stühle und ein Tisch mit Steinintarsien nach Versailles zurückgelangen, die Mme Du Barry für dieses Gemach erworben hatte.“ Ihnen zur Seite stehen nunmehr Stücke, die entweder aus Mme Du Barrys Schloss in Louveciennes stammen oder aus der Werkstatt ihrer angestammten Lieferanten – oder aber schlicht dem abhandengekommenen Mobiliar stilistisch verwandt sind. Die vierzehn Räume und Räumchen, wie viele im Schloss nur partiell möbliert, muten etwas unbehaust an. Aber ihre wiedergefundenen Farben beschwören eine Atmosphäre, ein air du temps herauf. Hier und da stößt man gar auf eine Fleur-de-Lys oder ein königliches Monogramm, die im ganzen Riesenpalast nur hier nicht durch revolutionäre Hände getilgt wurden! Fällt dann noch die Sonne über den Marmorhof hinweg auf das senfgelb gestrichene Parkett der zentralen Enfilade und lässt die goldverzierten Boiserien aufglänzen, wähnt man, der König werde gleich über eines der privaten Treppchen zu einer Causerie im kleinen Kreis hinaufsteigen.


Die Holztäfelungen der Prunkräume ihres Appartements ließ Mme Du Barry mit Gold verzieren (Bild: © château de Versailles, D. Saulnier)
Gleich dem Bad bestechen mehrere „innere“ Zimmer durch ihre spritzigen Farben (Bild: © château de Versailles, T. Garnier)
Eine Leseratte war die letzte Mätresse von Louis XV wohl nicht: Ihre Bibliothek diente eher dekorativen Zwecken. (Bild: © château de Versailles, T. Garnier)
Die auf den Marmorhof hinausblickende Enfilade (Bild: © château de Versailles, T. Garnier)


Bis zum 19. Februar 2023 im Schloss von Versailles.

Der Katalog ist so vollständig, informativ und prachtvoll bebildert, wie man es nur wünschen kann: Louis XV. Passions d'un roi. Château de Versailles/In Fine éditions, Versailles 2022. 498 S., Euro 49.-.
51 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Malen mit Licht

bottom of page