Ein Rückblick auf die wunderbare Wiedergeburt des Pariser Petit Palais seit der Jahrtausendwende
Stadtverwaltungen sollten ihre Museen nie aufgeben. Die Fall des Petit Palais zeigt, warum. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts erwog die Pariser Gemeinderegierung unter Jacques Chirac allen Ernstes, die Sammlung ihres Musée des beaux-arts in Kisten zu stecken und das Gebäude umzunutzen. Heute ist der Petit Palais das meistbesuchte der vierzehn städtischen Museen – eine wunderbare Wiedergeburt!
Erbaut worden war der Palast für die Weltausstellung 1900, deren Besuchern er eine „Rétrospective de l’art français“ bot. Zwei Jahre später beherbergte er als „Palais des beaux-arts de la Ville de Paris“ die Kollektion, die die Stadt seit 1870 aufgebaut hatte. Doch im Lauf der Zeit schwand das Interesse an der Kunst des neunzehnten Jahrhunderts, die den Sammlungsschwerpunkt bildet, und stach der unmittelbar benachbarte Grand Palais den Petit Palais als Ausstellungsort aus. Achtzig Jahre nach dessen Bau war das Innere durch Zwischenwände entstellt, die Bausubstanz marode, die Identität verwässert.
Eine Generalrenovierung ließ glücklicherweise die Originalität des Baus von Charles Girault wieder zutage treten. Dessen Architektur huldigt einem zeittypisch eklektizistischen Neorokoko: Die Einfachheit des Grundrisses – ein gleichschenkliges Trapez mit vier Eckrotunden um einen halbkreisförmigen Innengarten – wird durch ein reiches gemaltes und skulptiertes Dekor sowie durch die Polychromie von Mosaikböden und Marmorverkleidungen überhöht. Mehr Licht, Luft und Raum brachten auch die Sammlung besser zur Geltung. Diese reicht von der griechisch-römischen Antike bis zum Jahr 1914; Schwerpunkte sind Möbel, Tableaus und Kunstgegenstände des achtzehnten Jahrhunderts, stimmungsvoll präsentiert in einer Enfilade von Sälchen mit Holztäfelungen, vor allem jedoch ein Panorama der französischen Kunstproduktion von der Zeit Napoleons bis zum Ersten Weltkrieg. Bei der Wiedereröffnung Ende 2005 herrschte überwiegend Freude vor über die Neubegegnung mit einer Kollektion von eigener Güte, ausgestellt in einem der charaktervollsten Museumsbauten von Paris. Auf Kritik stieß indes das Labyrinthische des Parcours im Erdgeschoss und die teilweise Entstellung von Giraults Architektur durch das Büro Chaix & Morel.
Ende 2012 übernahm Christophe Leribault die Leitung des Petit Palais. In den knapp neun Jahren bis zu seinem Wechsel an die Spitze des Musée d’Orsay schärfte er das Profil des Hauses, das zu einer der ersten Adressen in der Pariser, ja in der französischen Museumslandschaft wurde. Leribault schuf je einen Saal für romantische, impressionistische und postimpressionistische Kunst, ersterer und letzterer mit kräftig farbigem Wandanstrich, wie einst üblich. Er stellte im Erdgeschoss von der kämpferischen Emphase der frühen Dritten Republik durchdrungene Entwürfe für Pariser Monumente und für die gemalten Dekors hauptstädtischer Rathäuser aus. Und er widmete die Nordgalerie wieder, wie zur Gründungszeit des Museums, der Bildhauerei: Rund dreißig große Skulpturen – vor allem Gipsmodelle – zeugen hier von der „Statuomanie“ der Kapitale am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts.
Dieses – bis auf gewisse Impressionisten und Postimpressionisten – ungeliebte Säkulum stellte Leribault auch dezidiert in den Mittelpunkt seiner Ausstellungen. So ergänzte der Petit Palais oft Lakunen des Musée d’Orsay (das die Zeit zwischen 1848 und 1914 abdeckt) und des benachbarten Grand Palais – nicht als Lückenfüller, sondern als zunehmend unentbehrliches Komplement. Bereits Leribaults Vorgänger, Gilles Chazal, richtete Retrospektiven aus für in Vergessenheit geratene Künstler, von denen das Museum substanzielle Bestände besitzt. Unter den Bildhauern wäre hier Jean Carriès zu erwähnen, dessen Kriegerköpfe, Faunenfratzen, Schreckensmasken und Schimären aus glasiertem Steinzeug zwischen Mittelalter und Japonismus vermitteln. Unter den Malern sei Fernand Pelez genannt, der mit rembrandtisch-republikanischen Lobgesängen auf Tüchtigkeit, Mutterschaft und Klassenverbrüderung bestach, vor allem aber mit miserabilistischen Pamphleten in Öl, deren Titel die soziale Stoßrichtung verraten: „Obdachlos“, „Grimassen und Elend – die Gaukler“…
Mit Nachdruck setzte Leribault auf Neuheit. Eine Schau machte mit Georges Desvallières bekannt, einem Historienmaler und Sakralkünstler in der Nachfolge von Gustave Moreau. Eine andere zeigte den bekannteren Félix Ziem, oft zu Unrecht als Orientalist oder als Mitglied der Schule von Barbizon etikettiert, als Schöpfer von Atelier-Tagträumen und Magier des Lichts, des Atmosphärenzaubers, der endlosen Äther über tiefliegenden Horizonten. Auch bei ausländischen Themen stimulierte oft die Originalität des Ansatzes. Das Allerweltsujet der römischen Barockmalerei ging eine Schau von den Niederungen der Gesellschaft her an, von der Unterwelt, um nicht zu sagen: dem Abschaum. Berühmten Unbekannten wie Jacob Jordaens und Walter Sickert widmete der Petit Palais die jeweils erste Retrospektive in Frankreich. Und befasste sich, als Korrektiv zur nordischen Fixiertheit des Musée d’Orsay und des Grand Palais, auch mit südlichen Schöpfern: den Spaniern Joaquín Sorolla und Josep Maria Sert, den Italienern Giuseppe de Nittis und Giovanni Boldini.
Die drei Letztgenannten waren Wahlpariser. In ihrem dritten Lebensjahrzehnt siedelten sie in die Lichterstadt über, um dort ihre Ausbildung zu vollenden und/oder um Ruhm und Reichtum zu suchen. Boldini wurde zu einem Sänger der mit Snobismus lasierten Eleganz von Salonlöwen und Edelmiezen, de Nittis zu einem zwischen Realismus, Naturalismus und Impressionismus changierenden Chamäleon, Sert zum Dekorateur sinnlich-theatralischer Interieurs für Geistliche und Gutsituierte. Aus ähnlichen Gründen zogen die Skandinavier Albert Edelfelt, Carl Larsson und Anders Zorn nach Paris – auch ihnen hat der Petit Palais Retrospektiven gewidmet. Dass Frankreichs Hauptstadt einst die Weltkapitale der Kunst war, ließ das Museum in grandiosen interdisziplinären Ausstellungen wie „Paris romantique“ oder „Paris 1900“ nacherleben. Der Fokus auf Paris ist neben jenen auf Neuheit und auf das lange neunzehnte Jahrhundert die dritte Hauptcharakteristik des Petit Palais.
Annick Lemoine, seit letztem Jahr neue Leiterin des Museums, skizziert auf Anfrage ihr Projekt: „Ich möchte die durch Christophe Leribault geleistete Arbeit würdigen. 2022 empfing der Petit Palais fast 1,1 Millionen Besucher, unter ihnen knapp dreißig Prozent Ausländer: Das ist sehr befriedigend. Das originelle, identitätsstiftende Programmkonzept will ich fortführen und verstärken. Wir werden also weiter thematische Ausstellungen wie auch Monografien ausrichten, die bedeutenden, in Frankreich wenig bekannten ausländischen Künstlern gewidmet sind. Im Herbst präsentieren wir eine große historische Freske, ‚Paris 1905-1925‘. Für 2024 bereiten wir die erste französische Werkschau des spanischen Caravaggisten Jusep de Ribera vor. Im darauffolgenden Jahr stellen wir den wichtigsten Schneemaler vor, den Finnen Pekka Halonen. Bei all diesen Vorhaben ist es mir wichtig, einem möglichst breiten Publikum Entdeckungen zu bieten. Endlich lassen wir, um eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen, jedes Jahr anlässlich der Foire internationale d’art contemporain [die 2022 durch Paris+ par Art Basel ersetzt wurde] einen lebenden Künstler eigene Werke im Dauerparcours, in den Durchgangsbereichen oder im Garten platzieren – wo und wie es ihm beliebt“.
Zu den seit 2014 eingeladenen Schöpfern zählen Andres Serrano, Yan Pei-Ming, Jean-Michel Othoniel und Ugo Rondinone. Mit diesen „Cartes blanches“ an lebende Schöpfer besinnt sich der Petit Palais, heute längst ein Museum für „alte“ Kunst, seiner Uranfänge: der Schau für Gegenwartskunst, mit der im Weltausstellungsjahr 1900 alles begonnen hatte.
Marc, wieder eine glanzvolles, ausserordentlich fluessig und literarisch verfasstes Erlebnis beim Durchwandern einer weiteren Pariser Sehenswuerdigkeit. Laengst Vergangenes wird wiederbelebt und mit viel Sachkenntnis zur Schau gebracht.