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marczitzmann

„Ich glaube, wir werden uns nicht mehr wiedersehen“ (Jankiel Befeler, 1942)

Aktualisiert: 15. Aug. 2023

Zum achtzigsten Jahrestag der Rafle du Vel d’Hiv, der größten Razzia in ganz Westeuropa, legt Laurent Joly, Spezialist für die Judenverfolgung unter dem Vichy-Regime, eine fesselnde Geschichte vor


Vor achtzig Jahren, am 16. und 17. Juli 1942, fand in Paris die größte Razzia auf Jüdinnen und Juden in ganz Westeuropa statt. Die sogenannte Rafle du Vel d’Hiv, benannt nach der überdachten Radrennbahn (Vélodrome d‘Hiver), in der die Mehrheit der Verhafteten zunächst eingepfercht wurde, ist im heutigen Stadtbild dank Gedenktafeln noch präsent. Sie bildet zudem die beklemmende Folie zweier überragender fiktionaler Werke. In „Dora Bruder“ (1997) begibt sich der Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano nach dem Lesen einer Vermisstenanzeige aus der Kriegszeit auf eine stark persönlich getönte Spurensuche nach einer fünfzehnjährigen jüdischen Ausreißerin, deren Mutter am 16. Juli 1942 aufgegriffen worden war. In Joseph Loseys Spielfilm „Monsieur Klein“ (1976) bildet eine Großrazzia, die frappierende Ähnlichkeiten mit der Rafle du Vel d’Hiv aufweist, den gleich einer Zeitbombe tickenden Fluchtpunkt der Handlung. Wie durch einen Trichter strudelt das Geschehen da in immer engeren Spiralen auf den finalen Moment zu, wo die Tür eines Viehwaggons sich vor dem (durch Alain Delon verkörperten) titelgebenden Antihelden schließt.


Und doch gibt es von diesem Ereignis, dessen traumatische Erinnerung noch immer in den Straßen der Kapitale wie in den Hirnen erstrangiger Schöpfer fortlebt, nur eine einzige Fotografie. Sie zeigt eine Reihe von Bussen und Polizeiwagen entlang der Fassade des Sportpalasts; eine Handvoll schemenhafter Figuren mit voluminösen Bündeln schart sich um den Eingang; die Fahrbahn glänzt vom frischen Regen. Ohne Hintergrundwissen ist auf diesem seinerzeit unveröffentlichten Schnappschuss eines Reporters, den der Historiker und Autor des Standardwerks "Vichy-Auschwitz" Serge Klarsfeld 1990 wiederentdeckt hat, nichts Böses zu sehen. Eben die nötigen Informationen legt jetzt der Historiker Laurent Joly, Spezialist für die Judenverfolgung unter dem Vichy-Regime, in einer überfälligen Gesamtdarstellung auf dem aktuellen Wissensstand vor. Seine 400-seitige Studie „La Rafle du Vel d’Hiv“ korrigiert etliche Fehlinformationen, die durch ältere Publikationen geisterten, wartet vor allem aber mit neuem Material auf und mit einer souveränen Einordnung, deren Zeitrahmen sich von den 1930er Jahren bis zur Jetztzeit erstreckt.


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Fremdenfeindlichkeit, genährt durch einen steten Zustrom an Emigranten aus Osteuropa, Hitlerdeutschland und dem zur Diktatur gewordenen Spanien, bildete die Prämisse der Judenverfolgungen im Frankreich der 1940er Jahre. Nach der Parenthese des linken Front populaire (1936-38) steckten Mitte-Rechts-Regierungen ab Februar 1939 Hunderttausende spanischer Republikaner, nach der Kriegserklärung im Herbst dann auch rund 18 000 Deutsche in Internierungslager. (Letztere waren großmehrheitlich Nazi-Gegner und Juden, ein kafkaesker Umstand, den einer von ihnen, der Schriftsteller Arthur Koestler, 1941 in „Scum of the Earth“ geißelte). Diese Aktionen konditionierten den Verwaltungsapparat und die Öffentlichkeit gleichsam für die ersten Judenverfolgungen 1941. So rief im Pariser Großraum die Internierung von 3700 Israeliten (überwiegend Polen) im Mai und von 4200 weiteren (unter ihnen 1500 Franzosen) im August keine nennenswerten Proteste hervor.


Ganz anders verhielt es sich mit der Rafle du Vel d’Hiv. Mit dem nazideutschen Einfall in die Sowjetunion im Sommer 1941 hatte sich der Kontext gewandelt. Aus der Verfolgung der Juden war eine Vernichtung geworden, deren Ausweitung von Osteuropa auf sämtliche besetzte Staaten die sogenannte Wannseekonferenz vom Januar 1942 besiegelte. Belgien, die Niederlande und Frankreich wurden im Juni desselben Jahres aufgefordert, je ein festgesetztes fünfstelliges Kontingent an Juden zur Deportation bereitzustellen. Der Chef der Vichy-Regierung, Pierre Laval, und der Generalsekretär der Polizei, René Bousquet, sahen zu diesem Zeitpunkt das „Tausendjährige Reich“ den Krieg gewinnen und wollten sich mit diesem gutstellen – zumal die Auslieferung der Juden „uns nichts kostet und für uns nur Vorteile hat“, wie Laval eiskalt bemerkte. So schlossen die beiden mit den für die „Endlösung“ zuständigen NS-Statthaltern einen Pakt: Als Gegenleistung für die Erfüllung der deutschen Wünsche sollten die Franzosen allfällige Razzien selbst planen und durchführen dürfen. Die Aktionen von 1941, wo Pariser Ordnungshüter unter deutschem Befehl gestanden hatten und die Vichy-Autoritäten praktisch übergangen worden waren, hatten eine tiefe Demütigung hinterlassen. Laval und Bousquet betrachteten sich als Realpolitiker, als Macher ohne Berührungsangst, die stets irgendwelche „Deals“ mit den Besetzern auszuhandeln trachteten, um den Staats- und Polizeiapparat – also letztlich ihre eigene Macht – zu schützen. Die Juden, zumal die ausländischen, waren für sie bloß ein Pfand für Verhandlungen.


So wurde mithilfe des fichier juif, einer 1940 erstellten und im Herbst 1941 aktualisierten Erfassung von rund 125 000 Jüdinnen und Juden in der besetzten Nordhälfte Frankreichs, eine Auswahl von 27 400 Nichtfranzosen zwischen 16 und 55 Jahren für Frauen, 16 und 60 Jahren für Männer getroffen. In ihrer Überstürzung übersahen die zuständigen Beamten dabei, dass 2500 der Männer bereits seit 1941 interniert waren. Zu verhaften waren innert anderthalb Tagen also knapp 25 000 Personen in und um Paris – die größte Judenrazzia Westeuropas.


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Am frühen Morgen des 16. Juli setzten sich zwischen 4100 und 4500 Pariser Polizisten in Bewegung. Mit Namenslisten versehen, klopften sie an die Türen ihrer Opfer. Um es gleich zu sagen: Die Aktion verlief nicht nach Plan. Mithilfe zahlreicher individueller Beispiele illustriert Joly, warum nicht. Ein erster Grund war das Profil der hauptstädtischen Schutzmänner im Jahr 1942. Weniger aus Berufung denn mangels Besserem Polizist geworden, war der durchschnittliche Pariser Ordnungshüter den Nazibesetzern nicht eben wohlgesonnen und in seinen Vorurteilen gegenüber Juden wenig gefestigt. Schon in den Tagen vor der Razzia hatte es im Polizeiapparat etliche undichte Stellen gegeben. Vorgewarnt, konnten sich viele allfällig betroffene jüdische Männer verstecken. Frauen, die nicht mit einer Verhaftung rechneten (die Razzien von 1941 hatten ausschließlich Männer visiert), gelang es ihrerseits in zahlreichen Fällen, die Schutzmänner zu erweichen. Diese beschieden den designierten Opfern dann jeweils, sie sollten ihre Sachen in Ruhe packen, man werde sie in ein, zwei Stunden abholen kommen. Viele Jüdinnen nutzten die solcherart gebotene Möglichkeit zur Flucht.


Ein weiterer Grund ist, dass die Pariser Israeliten 1942 in einem geringeren Maß aus der Gesellschaft ausgeschlossen waren als ihre Glaubensgenossen in Amsterdam, Berlin und Wien. Das Tragen des Judensterns war eben erst angeordnet worden – bei vielen Nichtjuden hatte die Maßnahme Mitleid und Empörung hervorgerufen, einige wenige stellten sogar durch das Anstecken von Fantasie-Sternen Solidarität zur Schau. Zudem hatten Frankreichs Juden nicht den Wohnort wechseln müssen, und ihre Kinder besuchten weiterhin die öffentliche Schule. Bande zu nichtjüdischen Freunden, Kollegen und Bekannten, durch die Nazis und ihre Helfershelfer erst ansatzweise gekappt, erwiesen sich für viele als lebensrettend. Auch gingen die Polizisten, wenn auf ihr Klopfen hin niemand die Tür öffnete, meist einfach weiter – Brecheisen kamen erst am Folgetag in größerem Umfang zum Einsatz, als schon klar war, dass das Plansoll nicht erreicht werden würde. Joly zählt noch viele weitere Umstände auf, die Juden halfen, der Razzia zu entkommen – bis hin zum missglückten Selbstmordversuch, der die Einlieferung in ein Krankenhaus und also die (zumindest vorläufige) Rettung nach sich zog.


Am Ende des ersten Tages waren lediglich 11 363 Personen festgenommen worden. Und am folgenden Vormittag konnten die – oft demoralisierten – Polizisten nur noch 1369 weitere Opfer aufgreifen: Jene, die sich absolut nicht hatten verstecken können oder wollen (einige wenige Juden legten eine angesichts der Umstände absurde Obrigkeitshörigkeit an den Tag). Auch befanden sich unter den 12 844 Verhafteten jener anderthalb Tage gut 4000 Kinder unter sechzehn Jahren. Diese waren zusammen mit ihren Eltern ins Vélodrome d’Hiver gebracht worden (kinderlose Juden wurden ihrerseits direkt ins Durchgangslager Drancy im Pariser Nordosten transferiert). Von rund 35 000 Visierten (25 000 namentlich aufgelistete Erwachsene zuzüglich 10 000 als „Anhängsel“ aufgeführte Kinder) konnte also lediglich ein knappes Drittel gefasst werden – ein laut Joly in Westeuropa beispiellos niedriger Prozentsatz.


Während Drancy als seit Ende 1939 bestehendes Internierungslager seinen traurigen Zweck halbwegs geordnet erfüllte, herrschten im Vélodrome d’Hiver unbeschreibliche Zustände. Bündig gesagt, hatte die Polizeipräfektur schlicht 8000 Personen in einem Sportstadium zusammengepfercht – ohne jede weitere Vorkehrung. Frauen, Kinder und Männer versuchten, auf dem nackten Boden zu schlafen, des grellen Lichts und der ununterbrochenen Lautsprecheransagen ungeachtet; die fünf Toiletten waren bald verstopft, zu essen und vor allem zu trinken gab es zunächst nichts, Kinder gingen im Gewühle verloren, Mütter drehten durch, einige schnitten sich die Pulsadern auf. Joly zitiert aus Briefen, die seinerzeit aus der Radrennbahn geschmuggelt worden waren, aus einem durch die Résistance veröffentlichten Schreiben einer jungen Sozialhelferin und aus späteren Berichten von Überlebenden. Ihren Grundtenor bringt ein verzweifeltes Billett auf den Punkt, das der fünfzehnjährige Jankiel Befeler am 18. Juli im Vélodrome d’Hiver an einen Freund geschrieben hatte: „Ich glaube, wir werden uns nicht mehr wiedersehen – schau, ich glaube, es ist wirklich das Ende.“


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Ab dem 19. Juli wurden die Opfer dann per Bus in zwei Lager im Département Loiret gebracht. Die Evakuierung dauerte drei Tage, am Morgen des 22. notierte ein Beamter der Präfektur gewissenhaft: „Es blieben fünfzig kranke Juden übrig und Fundobjekte, das Ganze wurde nach Drancy überführt.“ An dieser Stelle müssen wir auf den erschütterndsten Aspekt der Rafle du Vel d’Hiv zu sprechen kommen. Die US-amerikanischen Historiker Michael Marrus und Robert Paxton haben dem entsprechenden Kapitel in ihrem Standardwerk „Vichy France and the Jews“ den Titel „The Massacre of the Innocents“ gegeben. Ende Juli waren 2000 bei der Razzia aufgegriffene Kinder mit ihren Eltern im Internierungslager Pithiviers gelandet, 1400 weitere in Beaune-la-Rolande. Die Besetzer hatten, wie erwähnt, lediglich Erwachsene verlangt. Doch Bousquet und Laval hatten beschlossen, die Kinder zusammen mit ihren Eltern vom Vélodrome d’Hiver in die Loiret-Lager zu transferieren – und sie dort für die Deportation freizugeben. Ihre Entscheidung gründet weniger in Judenhass als in Bequemlichkeit und völliger Menschenverachtung. Zum einen hatten die Nazis nie ein Hehl daraus gemacht, dass langfristig alle Juden deportiert werden sollten – warum also nicht gleich die Kinder mitschicken, wo man sie schon unter der Hand hatte? Zum andern konnten die Vichy-Verantwortlichen, die wegen des sehr relativen Gelingens der Razzia über zu wenige erwachsene Juden verfügten, dank der Kinder die von den Deutschen festgelegten Quoten für die ab Ende Juli nach Auschwitz-Birkenau abfahrenden Züge erfüllen.


Potenziert wurde dieses wohl himmelschreiendste Verbrechen des Vichy-Regimes noch durch die Art und Weise, wie die Deportation vonstattenging. Zunächst fuhren die Männer nach Osten ab (vom 31. Juli an), dann die Frauen (ab dem 3. August). Eine Überlebende aus Pithiviers, seinerzeit dreizehn Jahre jung, erinnerte sich, dass die Kinder ohne ihre Eltern erst zu wütenden „kleinen Tieren“ wurden, im Lauf der Tage dann aber immer mehr in einen „autistischen“ Zustand verfielen: „Sie sahen niemanden mehr. Sie lachten nicht mehr, sie lächelten nicht mehr, sie weinten nicht mehr. Sie waren völlig in ihrem Schmerz eingeschlossen.“ Die tief verstörten, großteils an der Ruhr, mitunter auch an Diphterie, Keuchhusten oder Scharlach erkrankten Kinder wurden in der Mehrzahl erst vom 15. August an deportiert, zu vielen Hunderten unter wenige Erwachsene gemischt.


Joly schreibt: „Weder in Belgien noch in den Niederlanden, ja nicht einmal in Deutschland wurden je derartige Konvois zusammengestellt, die mehrheitlich aus misshandelten, seit Wochen von ihren Eltern getrennten Kindern bestanden. Eine solche Monstrosität ist beispiellos“. Es ist ungewiss, was aus den Kindern geworden wäre, hätten die Vichy-Verantwortlichen den dringenden Angeboten der Union générale des Israélites de France sowie zahlreicher nicht internierter Verwandter stattgegeben, die Sorge für die Elternlosen zu übernehmen. Zumindest hätten sie eine Chance gehabt: Dank namentlich der Solidarität zahlloser Nichtjuden überlebte in Frankreich ein im europäischen Vergleich beispiellos hoher Prozentsatz der kleinen Jüdinnen und Juden den Krieg: 84 Prozent! Doch von jenen, die während der Rafle du Vel d’Hiv aufgegriffen und anschließend ins Loiret verfrachtet worden waren, konnte nur ein kleiner Teil den Klauen der Verwaltung entrissen werden. Alle anderen wurden deportiert und samt und sonders vergast.


Der Kindermord vom Vel d’Hiv wirkt selbst im Kontext der an Gräueltaten nicht eben armen europäischen Judenvernichtung schockierend. Nicht nur suchten Bousquet und Laval den vorhandenen, sehr realen Verhandlungsraum in keinem Moment zu nutzen (ohne französische Polizeikräfte wäre die Razzia schlicht nicht möglich gewesen), sie drängten die Kinder den Nazis geradezu auf. So wurden Internierte unter sechzehn Jahren schon zu einem Zeitpunkt unter die zur Deportation bestimmten Erwachsenen gemischt, als Berlin noch längst nicht das grüne Licht dafür gegeben hatte (was erst am 13. August geschah). Es kam sogar so weit, dass deutsche Offiziere, über diesen Umstand aufgebracht, am 7. August 160 jüdische Kinder wieder aus einem Konvoi entfernten!


Und noch ein letzter Punkt: rechtsextreme Geschichtsverfälscher wie der heurige Präsidentschaftsanwärter Eric Zemmour verbreiten gern die Mär vom Pétain-Regime, das, ein deutsches Messer an der Gurgel, die fremden Juden geopfert habe, um die französischen zu retten. Aber rund 3000 der bei der Rafle du Vel d’Hiv aufgegriffenen Immigrantenkinder waren Franzosen! Bousquet und Laval gaben sie ohne mit der Wimper zu zucken preis, weil sie sie lediglich als „Papierfranzosen“ ansahen – ein Unwort, das bei Frankreichs strammen „Patrioten“ derzeit wieder hoch im Kurs steht.


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Die Razzia vom 16./17. Juli 1942 wurde durch breite Teile der Bevölkerung als eine Überschreitung anerkannter moralischer Normen angesehen. Viele, die der Judenfeindlichkeit der Zeit frönten, ohne rabiate Antisemiten zu sein, empfanden die Trennung der Kinder von ihren Eltern als stoßend. Es kam zu einem ersten Bruch mit dem Vichy-Regime. Der Pariser Kardinal Suhard legte persönlich bei Pétain einen Protest ein, den indes selbst der päpstliche Nuntius als „platonisch“ bezeichnen musste. Dagegen ließ der Erzbischof von Toulouse, Jules Saliège, am 23. August – drei Tage vor einer weiteren Großrazzia in der unbesetzten Südzone – von allen Kanzeln seiner Diözese herab einen ungleich weniger gewundenen Pastoralbrief verlesen: „Die Juden sind Männer, die Jüdinnen sind Frauen… Alles ist nicht erlaubt gegen sie… Sie sind Teil des Menschengeschlechts, sie sind unsere Brüder…“ Résistance-Gruppen, die BBC sowie amerikanische und schweizerische Zeitungen geißelten die Razzia. Thomas Mann brachte in einer Radiosendung nach Deutschland Ende September – im Detail ungenau, aber insgesamt akkurat – das Schicksal der Opfer zur Sprache: „In Paris wurden binnen weniger Tage 16 000 Juden zusammengetrieben, in Viehwagen verladen und abtransportiert.“ Auch die ominösen Worte „Tötung“ und „Giftgas“ ließ der Literaturnobelpreisträger fallen.


Die Geschichte der Rafle du Vel d’Hiv geht weit über die beiden Stichtage hinaus. Am Abend des 17. Juli 1942 inspizierte Heinrich Himmler in Person die neuen Vernichtungsanlagen von Auschwitz-Birkenau. Stumm sah der Reichsführer SS zu, wie holländische Juden vergast wurden; beim folgenden Umtrunk wirkte er wie verklärt, sein Gesicht strahlte vor Glück. Die gefräßige Tötungsmaschinerie lief auf Hochtouren und forderte ständig neue Nahrung. Auf die Rafle du Vel d’Hiv folgten viele ähnlich geartete Aktionen, in Paris führte die Polizei zwischen 1941 und Februar 1944 fünfzehn Razzien durch. Geschickt bringt Joly spätere Operationen in Verbindung mit der Rafle du Vel d’Hiv, indem er dokumentiert, wie Personen, die im Juli 1942 auf den Listen standen, aber entkommen konnten, später aufgegriffen wurden. Allein bis Ende August 1942 kam es so zu 1200 weiteren Verhaftungen. Andere jedoch tauchten unter oder flohen ins Ausland, einzelne schlossen sich gar der Résistance an.


Dank der enormen Dokumentation, die er zusammengetragen hat – die Auflistung der zu einem Gutteil unerschlossenen Quellen erstreckt sich über fast fünfzig Seiten! –, vermag Joly derlei Zusammenhänge durchgehend durch das Los in Mitleidenschaft gezogener Familien zu exemplifizieren. Die Tseverys etwa, Boulevard de la Chapelle ansässig: Am 16. Juli 1942 wurde die polnische Mutter morgens von Polizisten aus der Wohnung gezerrt, derweil der russische Vater und drei Söhne, auf dem Dach beziehungsweise in einer Toilette auf dem Gang versteckt, machtlos mithören mussten. Am Nachmittag schlugen die Ordnungshüter unerwartet erneut zu – die Concierge hatte ihnen zugetragen, es seien „noch Juden da“. Der Vater wurde verhaftet und nahm den neunjährigen Jüngsten mit, die beiden Älteren entgingen als französische Staatsbürger der Deportation. Vater, Mutter und Söhnchen wurden in Auschwitz ermordet; der sechzehnjährige Léon jedoch stieß zu einer legendär gewordenen jüdisch-kommunistischen Résistance-Gruppe, der Groupe Manouchian, und überlebte den Krieg.


So gelingt Joly eine fesselnde histoire incarnée, eine an Einzelschicksalen festgemachte Geschichte. Immer wieder vermag der Forscher dabei auch Standardwerke wie das erwähnte „Vichy France and the Jews“ und die Gesamtdarstellungen von Saul Friedländer („Das Dritte Reich und die Juden") und Raul Hilberg („The Destruction of the European Jews“) zu bereichern, wo nicht gar zu berichtigen. So schreiben alle drei erwähnten Werke der Razzia den Codenamen „Frühlingswind“ zu – doch dieser bezeichnete in Tat und Wahrheit eine Aktion aus dem Jahr 1944. Hilberg berichtet von elternlosen Kindern im Vélodrome d’Hiver, aber wie wir gesehen haben, standen unter 16-Jährige im Sportstadium noch unter der Obhut mindestens eines Elternteils. Friedländer lässt bei der Deportation der Kinder aus Beaune-la-Rolande und Pithiviers die Rolle Lavals und Bousquets völlig unerwähnt. Bei Marrus und Paxton endlich ist von drei- bis vierköpfigen Polizistengruppen die Rede, die die Verhaftungen durchführten; von drei- bis vierhundert Anhängern des faschistischen Parti populaire français (PPF), die den Ordnungshütern sekundierten; und von über hundert Selbstmorden. Joly vermag demgegenüber zu belegen, dass die Schutzmänner paarweise zu Werke gingen, dass sie ein paar Dutzend aufgekratzte Aktivisten des PPF von der Aktion fernhielten und dass sich während der anderthalb Tage der Razzia lediglich ein einziger Selbstmord dokumentieren lässt.


Was wie kleine Retuschen anmutet, hat dabei oft große Bedeutung. Lediglich zu zweit agierend, lag die Wahrscheinlichkeit höher, dass Polizisten sich – implizit oder explizit – darauf verständigen würden, Juden fliehen zu lassen, als wenn sie in Dreier- oder Vierergruppen aufgetreten wären. Und die geringe Zahl der versuchten oder geglückten Suizide widerspiegelt die Tatsache, dass Frankreichs Juden Mitte 1942 noch nicht alle Hoffnung hatten fahren lassen – dies im Gegensatz etwa zu ihren Glaubensgenossen im Deutschen Reich.


Nach dem Krieg wurde die Rafle du Vel d’Hiv instrumentalisiert, ihre Geschichte verfälscht. Eine „Säuberungskommission“ – épuration meint die Entfernung von Beamten, die sich mit den Besetzern kompromittiert hatten – enthob die Mehrzahl der fünfundvierzig beteiligten Kommissare ihres Amtes und sanktionierte ein paar übereifrige Vertreter des Fußvolks (die entsprechenden Dossiers erwiesen sich für Joly als Quellen ersten Ranges, zumal viele andere Akten aus der Besatzungszeit nach 1948 vernichtet worden waren). Einen ersten Gedenktag an die Razzia vereinnahmte 1945 der damals mächtige Parti communiste; die Gaullisten ihrerseits kehrten die Rolle der Pariser Polizei völlig unter den Tisch. Dank ihrer Beteiligung an der Befreiung der Kapitale galten die Ordnungshüter je länger, desto mehr als Helden – bald mochte niemand mehr an ihrem Standbild kratzen. So schrieben französische Schulbücher bis Ende der 1970er Jahre die Durchführung der Razzia den Deutschen zu! Mitterrand, der ein – freundlich formuliert – ambivalentes Verhältnis zum Vichy-Regime pflegte (Bousquet war ein persönlicher Freund des sozialistischen Präsidenten), hielt an der gaullistischen Lesart fest, Vichy sei als illegitime Parenthese in der Geschichte der Republik „null und nichtig“. Erst der Neogaullist Jacques Chirac sprach am 16. Juli 1995 am Standort des 1959 abgerissenen Vélodrome d’Hiver die überfälligen Worte aus: „Der kriminelle Wahn der Besetzer wurde durch Franzosen, durch den französischen Staat unterstützt. Frankreich, Heimat der Aufklärung und der Menschenrechte, Gast- und Asylland, beging an jenem Tag das nicht Wiedergutzumachende.“



Laurent Joly: La Rafle du Vel d'Hiv. Grasset, Paris 2022. 400 S., Euro 24.-.

Zusammen mit David Korn-Brzoza hat Laurent Joly auch einen Film zum Thema vorgelegt.
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1 comentario


Miembro desconocido
19 ago 2022

Danke für Ihren blog und insbesondere für diesen ergreifenden Beitrag. Mit den besten Wünschen Luis

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