Esa-Pekka-Salonen ist als Komponist ebenso gefragt wie als Dirigent. Ein Porträt anlässlich einer Begegnung in Paris
„Sinfonia concertante“ – der Gattungsbegriff meint kein Gegen-, sondern ein Miteinander: den amikalen Dialog, wo nicht gar die amouröse Fusion eines oder mehrerer Soloinstrumente mit einem Orchester. Esa-Pekka Salonens Sinfonia concertante für Orgel und Orchester beginnt mit einer Begleitbewegung der Königin der Instrumente im Diskant. Bald gesellt sich im schreitenden Dreiertakt eine Flötenstimme dazu, von der man zunächst nicht weiß, ob sie aus dem Pfeifenwerk ertönt oder aus den Reihen der Bläser. Trillerketten des Soloinstruments rufen künstliche Holz-Vögel auf den Plan, wie man sie aus Salonens Klavierkonzert kennt; das volle Orchester steigert sich in leuchtfarbenfrohe Turangalîla-Ekstase hinein; nach einem ruhigeren Orgelsolo erstirbt der „Pavane and Drones“ überschriebene Satz zu den Glissandi zweier Geigen, die wie verglühende Feuerwerkskörper vom dunklen Äther herabsinken. Der Mittelsatz, „Variations and Dirge“, ist ein Trauerfest des Figurenwerks über langgeschwungenen Kantilenen; das Finale, „Ghost Montage“, eine Holstsche Mars-Maschine mit Cantus-firmus-Einlagen aus Hockey-Riffs. Das Ganze, gründerzeitlich grandios, mutet nach dem ersten Hören nicht unbedingt wie Salonens subtilster Wurf an.
Beim Gespräch in Paris unterstreicht der Komponist einmal mehr, dass er sich von den Ge- und Verboten der postseriellen Dogmenhüter freimachen musste, bevor er seine Stimme fand. Die frühen Arbeiten sind hörenswert, aber eine Spur epigonal: Das spröd-kantable Saxophonkonzert (1980) gemahnt an Werke des reifen Boulez, die Onomatopöien-Vertonung „Floof“ (1988) spielt humorvoll auf Ligetis „Aventures“ an. „Mir fehlten die kompositorischen Werkzeuge, um mich weiterzuentwickeln“, blickt Salonen zurück. Der Aus- und Aufbruch gelang dem Finnen in den Jahren nach seinem Umzug nach Los Angeles 1992 – mit der Neufassung des 1982 zurückgezogenen Stücks „Giro“, vor allem aber mit den seitdem rund siebzig Mal durch bedeutende Dirigenten und Orchester aufgeführten „LA Variations“. „Bei der Revision von ‚Giro‘ verwendete ich ein Computerprogramm, das, wenn man eine Gruppe von Tönen hineinfüttert, einen Grundton ausspuckt. Dieser wird mithilfe der Oberton-Verwandtschaften der eingespeisten Töne ermittelt: eine Art musikalische Ahnenforschung“, erklärt der Komponist.
Seit jener Zeit verfügt Salonen über ein kompositorisches Werkzeug – auf Obertonreihen basierende Harmonien –, das ihm als eine Art Ersatz für den wichtigsten Trumpf der im zwanzigsten Jahrhundert aufgegebenen Tonalität dient: für die Funktionsharmonik, die auf Modulieren und Kadenzieren basiert, das heißt auf dem Fortbewegen von einem Pol der Stabilität oder im Gegenteil auf dem Festhalten an diesem. Was hier ein wenig technisch klingt, hat sich für Salonen als Mittel entpuppt, mithilfe der Gegensatzpaare Spannung und Entspannung, Gefahr und Sicherheit, Trübheit und Transparenz große formale Bögen zu errichten – tragfähige Pfeiler für längere Werke, deren Dramaturgie auch Laien-Hörer in ihren Bann zu schlagen vermag.
Der Name „Salonen“ steht heute für zehn- bis über dreißigminütige Kompositionen für großes Orchester (teils zuzüglich Instrumentalsolisten oder Chorsänger): die ideelle Tanzsuite „Foreign Bodies“, das ruhelose Nocturne „Insomnia“, die Konzerte für Klavier, Geige und Cello, das Meeresstück (mitsamt Koloratur-Nixen!) „Wing on Wing“, das quecksilbrig changierende „Nyx“, die fremd-exotische Hugo-Ball-Vertonung „Karawane“, das scharf kontrastierte Zwillingspaar „Castor“ und „Pollux“… All diese Werke und etliche andere sind voller Farbe und Erfindung, durchpulst von kinetischer Energie, reich an bildhaften Assoziationen und süffig instrumentiert – mitreißende Kapellmeistermusik, um ein Wort zu verwenden, an dem Salonen nichts Pejoratives sieht.
„Gemini“ (2018/19), bestehend aus den beiden Einzelwerken „Pollux“ und “Castor“, ist ein typisches Salonen-Stück: scharf kontrastiert („Pollux“ wirkt ritualhaft und archaisch-brütend, „Castor“ lärmig und neurotisch getrieben), episodenreich und blendend orchestriert.
Die am 13. Januar in Katowice aus der Taufe gehobene Sinfonia concertante ertönt diese Spielzeit auch in den Philharmonien von Berlin, Paris, Hamburg und Los Angeles, mit dem jeweiligen Hausorchester unter der Leitung des Komponisten. Salonen ist als Tonsetzer ebenso gefragt wie als Taktgeber – eine Doppelbegabung, die sich mit jener von Gustav Mahler und Leonard Bernstein, vor allem jedoch mit jener von Pierre Boulez vergleichen lässt. Wie der Franzose dirigiert der Finne neben eigenen Werken häufig jene von Zeitgenossen, freilich mit auffälligen Vorlieben und Abneigungen. Die Hauptvertreter der europäischen Avantgarde (Furrer, Holliger, Lachenmann, Neuwirth, Rihm, Sciarrino, George Benjamin…) fehlen in seinem Repertoire fast ganz, dafür findet man darin viele wie er selbst unter dem Einfluss der Musique spectrale stehende Skandinavier (Anders Hillborg, Magnus Lindberg, Kaija Saariaho…) sowie Exponenten der multikulturellen Szenen von Amerikas Ost- und Westküste. Und wie bei Boulez bilden Klassiker des zwanzigsten Jahrhunderts das Herz von Salonens Konzertprogrammen – auch da mit eigener Akzentsetzung: lieber Bartók und Stravinsky als Berg und Webern, lieber Ligeti und Lutosławski als Carter und Feldman. Diesem Kernrepertoire nimmt Salonen mit Flüssigkeit, Flexibilität und Verfeinerung das für manche Zuhörer Sperrige, lässt ihm aber, rhythmus- und strukturbetont, die Sprengkraft. Dass er Haydn und Mozart vernachlässigt, steht zu bedauern: ein blitzmusikantisches frühes Haydn-Album macht Lust auf mehr. Dafür hat er alle Beethoven-Symphonien aufgeführt (nur leider bloß vier von ihnen aufgenommen). Interpretationen voller Aha-Erlebnisse: Die vielgespielte Siebte etwa erwacht unter seinem Stab mit selten gehörten Details zu aristokratisch verfeinertem, schier apollinischem Leben.
Auch Salonens längere Bindungen zeugen von seiner internationalen Gefragtheit in beiden Sparten. Das Tonhalle-Orchester Zürich schuf für ihn 2014/15 einen „Creative Chair“; „Composer in residence“ war er in den drei darauffolgen Spielzeiten am New York Philharmonic und ist er diese Saison bei den Berliner Philharmonikern. Als Chefdirigent stand Salonen namentlich zwischen 1992 und 2009 dem Los Angeles Philharmonic vor, das er zum aufregend innovativen kulturellen Aushängeschild der Stadt machte und dem er zu einer spektakulären Konzerthalle von Frank Gehry verhalf. Als Leiter des Philharmonia Orchestra zwischen 2008 und 2021 setzte der Finne auf multimediale Installationen, um die Orchesterarbeit zu vermitteln und so Hemmschwellen abzubauen. „Re-Rite“ und „Universe of Sound“ machten mit Nahaufnahmen einzelner Instrumentalisten oder ganzer Gruppen auf Riesenbildschirmen sowie mit Touchscreens und bewegungsgesteuerten Interaktionen von innen erlebbar, wie die Londoner Musiker Stravinskys „Sacre du printemps“ beziehungsweise Holsts „Planeten“ aufführen. Salonen hat auch – bereits 2012! – eine App mit dem selbstsprechenden Namen „The Orchestra“ mitgeschaffen und 2020 an Finnlands Nationaloper ein interaktives Musiktheater. „In ‘Laila’“, erklärt der Komponist, „werden in einem Raum mit 360-Grad-Lichtprojektionen alle Besucher individuell durch eine Künstliche Intelligenz identifiziert. Führt einer von ihnen eine bestimmte Bewegung aus, ruft das in der Umgebung eine bestimmte Reaktion hervor, etwa die Geburt eines Schwarms Vögel. Peu à peu werden die virtuellen Kreaturen rebellisch, bekämpfen einander; die Dystopie endet mit einem Weltuntergang. Aber dann verkündet eine Kinderstimme zu gurreliederschen Klängen eine Auferstehung."
Es dürfte interessant sein zu verfolgen, wie der technologieaffine Dirigent die wenig klassikbegeisterte Elite des Silicon Valley für sogenannte E-Musik zu erwärmen sucht. Seit 2020 leitet Salonen das San Francisco Symphony, dessen Zukunft mitzuschmieden er acht junge Kreative um sich versammelt hat. Diese „Collaborative Partners“ haben sich zu Lockdownzeiten mit dem aus Einzelaufnahmen montierten Video eines Gelegenheitsstücks von Nico Muhly vorgestellt: Jeder der acht wirkt darin als Solist oder als Ko-Komponist mit. Muhly wird Salonen und das San Francisco Symphony auch auf deren erster Europatournee begleiten. In der Hamburger Elbphilharmonie bestreitet der Dirigent im März neben zwei Konzerten mit einem konventionellen und einem ausgefallenen Programm gemeinsam mit Muhly, Yuja Wang und Orchestermitgliedern einen Kammermusikabend, dessen Programm Renaissance-, Barock-, neue und neueste Musik in Resonanz treten lässt. „Einzelauftritten ziehe ich solche Mini-Residenzen vor“, erklärt Salonen – „bei Tourneen schon allein aus ökologischen Gründen“.
Das Stück „Throughline“ von Nico Muhly ist ein Auftragswerk des San Francisco Symphony. Während seiner siebzehn Jahre als Leiter des Los Angeles Philharmonic hat Salonen sage und schreibe vierundfünfzig Kompositionen bestellt und von hundertzwanzig weiteren die US-amerikanische oder Welturaufführung dirigiert.
Um Nachhaltigkeit, in der Bewirtschaftung des Planeten wie in der Erziehung von dessen nachrückenden Bewohnern, geht es auch beim Baltic Sea Festival mit Sitz in Stockholm, das Salonen 2003 mitgegründet hat. Mittelbarer Auslöser war die erste große Algenblüte im Finnischen Meerbusen 1999. „Meine Töchter und ich gehen im Sommer gern morgens schwimmen“, erinnert sich Salonen, „doch eines Tages war die gesamte Bucht mit gelbgrünem Glibber gefüllt“. Durch hochkarätige Musikaufführungen sollten die Entscheidungsträger der Anrainerstaaten und -städte zur Zusammenarbeit gebracht werden. Das lief gut bis zur Annexion der Krim; von da an wurde die Beteiligung Russlands und insbesondere des Petersburger Dirigenten Valery Gergiev zunehmend problematisch. „Das finnische und das schwedische Außenministerium hießen mich, die Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, solang dafür eine minimale Basis gegeben war. Heute existiert diese nicht mehr. Ich schätze Gergiev als Freund und als Künstler, aber er ist ein erwachsener Mann, der klar die Wahl getroffen hat, Putin zu unterstützen. Die Konsequenzen dafür muss er tragen. Etablierte Interpreten, die als Stützen des Kremls auftreten, sollten im Westen nicht mehr engagiert werden. Anders verhält es sich mit russischen Nachwuchsmusikern, die gerade einen Wettbewerb gewonnen haben und plötzlich reihenweise Verpflichtungen im Ausland annulliert sehen, weil sie keine flammende Verurteilung abzugeben vermögen. Das ist weder fair noch hilfreich."
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