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marczitzmann

Schwarzes Gold und weisser Gips

Aktualisiert: 28. Okt. 2023

Die Brüsseler Monnaie-Oper lanciert eine Neuproduktion von Wagners Tetralogie


Paris für Verdi, Brüssel für Wagner – so sah am Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Aufteilung des frankophonen Opern-Territoriums aus. Belgiens Hauptstadt hat acht der zehn Werke des Bayreuther Kanons auf Französisch aus der Taufe gehoben, nur bei „Tannhäuser“ sowie „Tristan und Isolde“ waren Paris respektive Monte-Carlo schneller. Das Thema „La Monnaie wagnérienne“ bietet so viel Stoff, dass Manuel Couvreur 1998 unter diesem Titel dem Wagnerismus der Brüsseler Oper zwischen 1870 und 1914 einen vierhundert Seiten dicken Sammelband widmen konnte! Den „Ring des Nibelungen“ etwa präsentierte La Monnaie – nach einem Gastspiel der Bayreuther Ur-Produktion 1883 – bereits 1903 mit hauseigenen Kräften. Angesichts dieser von Wagemut und „progressivem“ Engagement geprägten Vorgeschichte weckt ein neuer „Ring“-Zyklus, der erste seit jenem von Sylvain Cambreling und Herbert Wernicke zum Abschluss der ebenso stimulierenden wie polarisierenden Intendanz Gerard Mortiers 1991, weitherum hohe Erwartungen.


Sind Alain Altinoglu, Romeo Castellucci und die beteiligten Solisten den in sie gesetzten Hoffnungen gerecht geworden? Dem italienischen Regisseur, der seit seinem Einstand mit „Parsifal“ an der Monnaie 2011 in Deutschland, Frankreich, Österreich und – natürlich – Brüssel ein Dutzend weitere Opern inszeniert hat, von Christoph Willibald Gluck bis Morton Feldman, gelingt eine faszinierende Anfangsszene. In fast völliger Finsternis dreht sich auf der Bühne ein übermannhoher schwarzer Metallreif immer rascher, immer flacher. Die durch Bodenkontakt erzeugte bruitistische Beschleunigung evoziert nicht nur die kommenden Ambosse Nibelheims, sondern auch das unmittelbar anhebende Vorspiel.


Diese berühmten 136 Takte fassen die Geburt der Musik aus der Stille in eine hörbare Form: Tonale Harmonie entsteht hier durch die allmähliche Schichtung (und wellenähnliche Umspielung) von Obertönen über einem in den Urgründen des Basses gehaltenen Es; Metrum und Rhythmus werden ihrerseits durch einen Prozess der systematischen Aufteilung des Grundschlags erzeugt. Castellucci findet für diese musikalische Genese ein visuelles Äquivalent: Er lässt in totaler Dunkelheit den vergoldeten Bühnenrahmen aufleuchten und bevölkert peu à peu die Bretter dahinter mit Schemen. Ein Rahmen, ein Raum, ein Geschehen gewinnen so vor unseren Augen Gestalt. Die Rheintöchter, das sind rechts drei ölig-bronzen glänzende Halbnackte mitsamt tänzerisch ondulierenden Doubles, die aus der Halbdämmerung auftauchen und wieder darin verschwinden. Alberich seinerseits findet sich links an einen Metallträger gekettet – aquatische Bewegungen auf der Stelle, im trüben Chiaroscuro verschwimmend, ersetzen hier vorteilhaft das in dieser Szene oft irritierende Gerenne.


Die Fallhöhe zur folgenden ist leider hoch. Die „freie Gegend auf Bergeshöhen“ nimmt da die Form einer mit gräzisierenden Gips-Halbreliefs und Skulpturen verstellten weißen Wand an – wohl ein Verweis auf die von einem Satyrspiel begleiteten tragischen Trilogien der alten Griechen, auf die Wagner mit den drei Tagen samt Vorabend seines Bühnenfestspiels Bezug nahm. Die Götter balancieren zunächst mühsam über einen Teppich aus Menschenleibern; als dann die Riesen auftreten, schlüpfen fünf Kinder in die Rollen Wotans, Frickas, Freias, Donners und Frohs, derweil deren Gesang aus dem Off ertönt – nicht nur in akustischer Hinsicht kein glücklicher Einfall. Ebenso künstlich und kopflastig, „sprechen“ Fasolt und Fafner jeweils im Doppel, wo einer der beiden in der Wir-Form singt. Die dritte Szene verweist dann mit ihren schwarzbehelmten Nibelungen, die Ölpumpen oder Metallarbeiter mimen, klar auf die durch George Bernard Shaw begründete kapitalismuskritische Lesart des Werks. Origineller ist hier Alberichs Verwandlung in eine Kröte: Der verwachsene Zwerg streift die seinen Oberleib umschließende Kunsthaut ab – und fällt im Adamskostüm in Wotans und Loges Klauen.


Die Schlussszene, wo die beiden dem Alben Hort, Helm und Ring abnötigen, schwingt sich dann wieder zu erschütternder Eindringlichkeit auf. Der Fluch des nackten, mit schwarzem Gold besudelten Zwergs – langsam, leise, ätzend – bildet den Höhepunkt des Abends. Was danach kommt, fällt ab: Erda singt unverständlicherweise aus einer Statistenmasse heraus, am Ende lassen sich die Götter, in wallenden weißen Gewändern, einer nach dem andern mit ausgebreiteten Armen in ein Loch fallen.


Castellucci ersinnt immer wieder Bild-Chiffren, die eine Konstellation, eine Handlung, ein Motiv wie ein Blitz in der Nacht verdichten. Seine Personenführung bezwingt da, wo sie schlicht bleibt. Aber aus früheren Arbeiten bekannte Versatzstücke wie die geschwungene Fahne, das mit Tinten-Bomben beworfene Porträtbild, die geheimbündlerisch-esoterischen Aufzüge und so weiter stehen in diesem „Rheingold“ störend quer.


In musikalischer Hinsicht setzt die Produktion, man ahnte es, der jahrzehntealten Krise des Wagner-Gesangs kein Ende. Nennen wir zumindest drei Glanzlichter: Peter Hoare fächert als Mime eine breite, situationsgerecht eingesetzte Palette an stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten auf; Scott Hendricks verkörpert, wohl singend und vehement, einen mehr mitleiderregenden als abstoßenden Alberich; Nicky Spence gibt den feuerzüngigen Halbgott Loge als nihilistischen Zauberkünstler und Bob-Wilson'schen Clown. Alle drei sind Angelsachsen, alle drei bemühen sich mit Erfolg um eine saubere Diktion (wobei Spence noch Mühe hat mit dem deutschen "R" und „ch“).


Ein Glücksfall endlich Alain Altinoglus geschmeidiges, sprechendes Dirigat. Der (in Paris geborene!) Musikdirektor der Monnaie zieht kammermusikalische Feinarbeit der philharmonischen Überwältigung vor und setzt mehr auf Spalt- denn auf Mischklang; das zugleich deutsch-dunkel und französisch-farbig klingende Hausorchester konkretisiert jeden seiner Impulse prägnant. Brüssel und Wagner – ein Kapitel, nein mehr: ein dicker Band für sich!

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