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marczitzmann

Ist es schon wieder 5 Uhr 38?

„Extra Life“, Gisèle Viennes jüngstes Stück, nimmt sich der Themen „Pädophilie“ und „Inzest“ an, indem es Sinneseindrücke potenziert und Perzeptionsebenen dissoziiert

 


Fassen wir kurz die Ausgangslage zusammen, bevor alles verschwimmt. Eine Schwester und ihr etwas jüngerer Bruder, beide wohl in den Dreißigern, kommen von einer Fete zurück. Gute Vibrationen, Drogen, man hat einander das Herz ausgeschüttet. So vertraute Clara einer empathischen Unbekannten an, wie sie und Felix als Heranwachsende durch ihren Onkel missbraucht wurden. Jäh sprudelten da aus anderen Partygästen ähnliche Geschichten heraus.


„Extra Life“, Gisèle Viennes jüngste Produktion, im Rahmen des Pariser Festival d‘Automne letzten Monat in der MC93 – Maison de la Culture de Seine-Saint-Denis in der Vorstadt Bobigny zu sehen, beginnt in völliger Finsternis. Musik aus dem Nichts, wie synthetischer Walgesang im phrygischen Modus. Ein schwaches Oberlicht; die Scheinwerfer eines Autos. Clara und Felix sind auf der Rückfahrt in einem Niemandsland mit feuchtem, kieselsteinübersäten Boden gestrandet. Es ist 5 Uhr 38. Adrenalingesättigtes Debriefing. „All diese Leute zu treffen“, bebt Felix, „das ändert alles – ich glaub, das ist erst der Anfang“. „Als ob wir vorher tot gewesen wären“, zittert Clara nach, „aber jetzt fühl ich mein Herz so stark, dass es fast wehtut“. Hänsel und Gretel in einer schwarzen Sternenwelt. Nachtgeräusche, Sirren, ein Käuzchen ruft. Im Radio eine US-Sendung mit Voiceover: Ein Mann erzählt, wie Außerirdische ihn nachts aus dem Bett entführt haben. Brüderlein und Schwesterlein ätzen aufgekratzt, viele glaubten lieber an bösartige Pfifferlinge von fremden Planeten als an Kindesmissbrauch in der eigenen Familie. Die Begriffe „Selbstmordversuch“, „paranoider Junkie“ und „dissoziative Identitätsstörung“ blitzen in ihrem glucksenden Gegacker auf. Vienne streut Indizien aus, wie im Wald verirrte Kinder Brotkrümel hinter sich lassen. Aber die Finsternis frisst alles auf.


Kunstnebel fließt über den Boden; Felix als „Captain Jim“ erforscht in Zeitlupe die Mondlandschaft. „There appears to be oxygen“, übermittelt er der Schwester aka Bodenstation. „It looks like a desert, it looks dead, dead, dead“. Eine goldbronzene Lichtdecke unterteilt den Bühnenraum horizontal, Wind beginnt stark zu rauschen. Alles wird zunehmend fremd. Zum Pulsieren von Retorten-Klarinetten schluchzt Clara haltlos – „unglaublich, dass ich es schaffe, so zu weinen“. Die Zeit dehnt sich, aber zieht sich nicht: Man nimmt jede noch so kleine Aktion mit ungewohnter Intensität wahr. Ist es schon wieder 5 Uhr 38?


Ein Double (beider Geschwister zugleich) orakelt: „Das Prinzip einer Falle – dass man sie nicht sieht“. Plötzlich sitzen alle drei im Auto. Ein Käfig, dessen Inneres glüht wie ein Blutofen; ringsum totale Schwärze. Der Nachhall traumatischer Kindheitsszenen – „Kommst Du, Klara, Liebes?... Sag Deinem Bruder jetzt, er soll gehen…“, befiehlt der länger schon verstorbene Schänder-Onkel – mischt sich mit Echos von Partygeplänkel. Mit Fetzen verzerrter Zeichentrickfilmdialoge. Mit einer Kastagnetteneinlage des Plüschhunds Poochie. Mit Felix‘ Streitgesprächen mit seiner Marionette, dem gruslig maskierten Frankie. Dazu als Klangkulisse eine Art langsames, unterseeisches Köcheln. Und atemraubende Laserspiele in Grün, Blau, Rot: Lichtarchitekturen wie mentale Räume am Rande der Umnachtung.


„Extra Life“ ist nicht (nur) Sprechtheater. Die Produktion trägt ebenso Züge von Installation, Choreografie, Konzert. Man muss sich einlassen auf die Langsamkeit, das Dunkel, das Fragmentarische, Nicht-Lineare, Palimpsestartige des Erzähldispositivs. Wobei letzterer Begriff es nicht wirklich trifft: Das Stück schildert weniger eine Geschichte, als dass es Sinneseindrücke potenziert und Perzeptionsebenen dissoziiert. Es lädt dazu ein, abwechselnd auf die verstärkten und verfremdeten Stimmen von Adèle Haenel (Clara), Theo Livesey (Felix) und Katia Petrowick (Double) zu fokussieren, auf Yves Godins eisig schöne Lichtkreationen, auf Caterina Barbieris minimalistisch-hypnotische Musik, auf Adrien Michels von Nachtdunst durchtränkte Geräuschkulisse. Die handwerkliche Perfektion ist stupend und würde für sich genommen schon jene Lügen strafen, die in Viennes Produktionen bloß geschmäcklerische, zeitgeistig-seichte und rein formalistische Variationen auf das immergleiche Happening für hippe, queere Crowds sehen.



Zugegeben, diese Produktionen sind extrem. Wie Triebtäter neigen sie zu Riten und Marotten, sind krank, pervers, gewalttätig – in einem (neudeutschen) Wort: abgefuckt. Ihre unheimlichste Schöpfung, das Kultstück „Jerk“, zwischen 2008 und 2020 auf Tournee bejubelt, hat Vienne letztes Jahr als Kinofilm adaptiert. Das Dispositiv evoziert ein Laborexperiment oder eine BDSM-Session (nicht von Ungefähr spricht die Domina aller Dominas, Catherine Robbe-Grillet, einen Off-Text): Eine Stunde, ein Schauspieler und eine zugleich virtuose und unaufdringliche Plansequenz, um den Vortrag eines Serienmörders vor Psychologiestudenten darzustellen. David hat zusammen mit einem anderen psychotischen Jugendlichen, Wayne, sowie dem erwachsenen Earl an die dreißig Heranwachsende zu Tode gefoltert – eine reale Mordserie aus Texas bildet die Folie. Um seine Geschichte nachzuerzählen, wählt der auf Lebenszeit eingekerkerte Täter, der auch ein Opfer ist, das Medium des Marionettentheaters. Ein Stofftier verkörpert den abartigen Earl, Puppen spielen den manischen Wayne sowie drei der Opfer, sich selbst interpretiert David in eigener Gestalt. Jonathan Capdevielle verleiht allen Figuren dieses Schlächtertheaters eine eigene Stimme. Dabei dissoziiert der Ventriloquist, Darsteller und Marionettenspieler die Perspektiven: Seine Bauchstimme artikuliert gespenstisch die Worte des einen, derweil sich auf seinem Gesicht die Reaktion eines anderen malt – und seine Hände womöglich die Puppenglieder eines Dritten bewegen. Capdevielles ebenso gestörten wie verstörten blauwässrigen Blick vergisst man nicht so leicht. Wie auch die Katharsis der traumatisierten Geschwister in „Extra Life“ nicht: Diese treten vom nächtlichen Mondnebel ins luzide Laserlicht.



 

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