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„Frosch“ mit Schattenseiten

Richard Strauss‘ und Hugo von Hofmannsthals längste und ambitiöseste Oper in Lyon und Stuttgart


Richard Strauss’ dreiaktige Oper „Die Frau ohne Schatten“, zwischen 1911 und 1917 entstanden, wird nicht so oft aufgeführt wie es ihrem überragenden Rang gebührte. Das hat praktische Gründe. Das Werk erheischt erstens ein riesiges Orchester mit entlegenen Instrumenten wie Bassetthorn, Glasharmonika und chinesischen Gongs: Diese gilt es zu beschaffen und mit adäquaten Interpreten zu besetzen; das Orchester als Ganzes muss sodann ein versierter Dirigenten nicht nur mit den Sängern auf den Brettern koordinieren, sondern auch mit Solisten sowie Chören und Instrumentalensembles variabler Zusammensetzung hinter der Bühne. Zweitens sind fünf Hauptrollen zu casten, die allesamt das viel strapazierte Epitheton „mörderisch“ verdienen. Drittens steht auch das Regieteam vor einer gleich dreifachen Herausforderung. Es muss Ideen finden für die szenische Umsetzung der Zaubereinlagen der allegorischen Märchenhandlung; es muss deutlich machen, wo die jeweilige Szene spielt: in der Welt der Geister, jener des Kaiser- oder jener des armen Färberpaars; und es muss entscheiden, ob es Hugo von Hofmannsthals Dichtung mit ihren komplexen Reflexionen zu Liebe, Ehe, Elternschaft und dem verantwortlichen Umgang mit Wohlstandsressourcen angesichts der Ansprüche ungeborener Generationen getreu auf die Bühne bringen oder diese einem eigenen Konzept unterordnen möchte (wobei die Wahl keine absolute, sondern eine graduelle ist).


Pulsierendes Seeigelskelett in Betonbienenwabe: In Stuttgart stellt Geisterkönig Keikobad (beziehungsweise sein Bote, in der Mitte) kuriose Experimente mit dem Färber- und Kaiserpaar an. (Bild: Matthias Baus)

In diesem Jahr hat das Stück augenscheinlich Konjunktur. Nach Aufführungen bei den Osterfestspielen Baden-Baden und jüngst zur Saisoneröffnung an der Oper Köln führen nun zwei Neuproduktionen in Lyon und Stuttgart die Bandbreite der Lösungen zu diesen drei Problemkreisen vor Augen – und zu Ohren. Was Letztere betrifft, hat die Opéra national de Lyon die Besetzung den Dimensionen ihres Saals und Grabens angepasst. Statt der vorgesehenen vierundsechzig Streicher spielen so deren zweiundvierzig; auf Glasharmonika, chinesische Gongs und andere Instrumente wird verzichtet; insgesamt findet sich die Zahl der Instrumentalisten von über hundertzwanzig auf deren achtzig reduziert. Dabei heischt „Die Frau ohne Schatten“ wie kaum eine andere Oper nach philharmonischer Fülle – nach dem schillernden Streicherschmelz, den sechzehn Lasuren von (vorzugsweise: Wiener) Violinen zu erzeugen vermögen, wie nach den Strömen weißglühenden Blechs, für deren Erzeugung es acht Hörner braucht, nicht nur deren vier wie in Lyon. Der Orchesterpart von Strauss‘ längster und ambitiösester Oper lebt – auch – von den vielen Graden der Differenzierung zwischen roh tachistischen, oft polytonalen Klangballungen und zartester kammermusikalischer Ausdünnung. In Lyon tönt dieses weite Gefälle wie nivelliert, als würde „Die Frau ohne Schatten“ durch das Kammerorchester der Oper „Ariadne auf Naxos“ gespielt (an der Strauss und Hofmannsthal eine Zeitlang parallel arbeiteten). Kommt hinzu, dass Daniele Rustionis Dirigat der Intensität und – namentlich im Schlussseptett des zweiten Akts – der Tiefenstaffelung ermangelt.


Tiefenstaffelung bietet in Lyon hauptsächlich Fabien Lédés Bühnenbild. (Bild: Stofleth)

An der Staatsoper Stuttgart wirken dagegen neunundneunzig Instrumentalisten mit – was man sogleich hört. Die Streicher sind zwar ähnlich mittelstark besetzt wie in Lyon, doch aufgrund der nahen, umhüllenden Akustik des Opernbaus von Max Littmann tönen sie ungleich voller (und auch homogener) als jene des doch um ein Viertel kleineren Hauses von Jean Nouvel. Alle übrigen Instrumentalisten sind in höherer Zahl vertreten: Zwei Harfenisten statt eines einzigen, vier Fagottisten statt zweien, sechs Schlagzeuger statt deren vier und so weiter. Vor allem jedoch steht mit Cornelius Meister ein mitdenkender und -gestaltender Musiker am Pult, der die Besonderheiten der Partitur mit Verve und Finesse zu vermitteln weiß. Die Tempi sind flüssig, ohne der Ruhemomente zu entbehren, die Dynamik besticht mit hoher Flexibilität, der – in diesem Werk so wichtige – Sinn für Koloristisches ist exquisit. Gewisse Effekte hört man selten so: etwa die körperhaften Streicher-Glissandi, als die Amme die Färberin mit Sklavinnen und Slaven zu korrumpieren trachtet, oder die leisen Tonleitern-Wirbelwinde diverser Streichergruppen in der Einleitung des dritten Akts. Stellvertretend für viele instrumentale Glanzlichter sei Ingo de Haas‘ überirdisch süßes und konzentriertes, inniges und reines Violinsolo in der Verwandlungsmusik zur Prüfungsszene der Kaiserin herausgehoben.


Auch in gesanglicher Hinsicht liegt Stuttgart vorn. Was freilich einer Verkettung unglücklicher Umstände geschuldet sein mag: Am Morgen der besuchten Lyoner Aufführung waren beide Interpreten des Kaiserpaars erkrankt; es wäre unfair, die buchstäblich im letzten Moment aus Deutschland eingeflogenen Ersatzsänger hier beurteilen zu wollen. Färberin – warm und strahlkräftig: Ambur Braid – und Amme – fest in der Tiefe, flackernd in der Höhe: Lindsay Ammann – boten ihrerseits solide Leistungen; richtig begeisternd war Josef Wagners Färber Barak. Der niederösterreichische Bassbariton steht seinem großen Rollenvorgänger Walter Berry, bei dem er – wie bei der Jahrhundert-Färberin Christa Ludwig – Meisterkurse belegt hat, in nichts nach. Er besitzt jene schlichte „Freude im Herzen“ (so Barak über sich selbst), die sich auch stimmlich niederschlägt: In Form von langem Atem, sicherer Stütze, ruhevoller Phrasierung, tadelloser Diktion und Projektion. Fast wirkt Wagners samten-markiges Timbre zu jungmännlich und verführerisch – da entspricht jenes von Martin Gantner in Stuttgart viel eher der gesetzten, volkstümlich-schlichten Figur.


Wie kann man diesem Barak widerstehen? Iréne Theorin und Josef Wagner als Färberin und Färber in Lyon. (Bild: Stofleth)

Daselbst punkten auch Iréne Theorin als tiefenschwache, aber in der Innenschau („Dritthalb Jahr…“) aufblühende Färberin, Evelyn Herlitzius als engagierte, aber nicht stets durchschlagkräftige Amme, vor allem Simone Schneider als mattgolden timbrierte, erst befangene, im dritten Akt dann aber grandios souveräne Kaiserin. Bei allen dreien indes lässt das Textverständnis zu wünschen übrig. Wohingegen Benjamin Bruns jede Silbe mit formvollendeter Klarheit bildet. Der Kaiser des Hannoveraner Tenors ist vom gleichen Kaliber wie der Färber Josef Wagners: eine quasiideale Verkörperung. Bruns betört so mit einer Mischung aus leuchtender Energetik und inniger Weichheit – Letztere erlaubt es ihm, die zumeist in strahlender Höhe angesiedelten drei Auftritte des gekrönten Jägers und Verliebten mit Fragetönen, Innehalten, ja dunkler Verzweiflung abzuschattieren. Auch Nebenrollen wie Bote (Michael Nagl), Jüngling (Kai Kluge) und Stimme von oben (Annette Schönmüller) sind in Stuttgart glänzend besetzt.


Radioaktives Gefieder, strahlender Gesang: Benjamin Bruns als Kaiser in Stuttgart (Bild: Matthias Baus)

Bleibt die Regiearbeit. Die Frage nach der szenischen Umsetzung der Zaubereinlagen ist schnell beantwortet: Singende Fische, goldene Springquelle, aus der Luft auftauchende Schwerter, Halsbänder und Pavillons findet man in keiner der beiden Inszenierungen. Jene von David Herrmann in Stuttgart besticht immerhin mit einer magischen Visualisierung des unsichtbaren Geisterkönigs: ein übermannhohes Seeigelskelett, das von der Mitte her weiß-rot-bläulich pulsierende Lichtwellen aussendet. Auch das Problem der Lokalisierung der jeweiligen Szene wird hier wie da nicht stringent angegangen. Fabien Lédé hat für Mariusz Trelińskis Lyoner Inszenierung auf einer Drehbühne einen Palmenpavillon geschaffen, dessen eine Längsseite dem menschlichen White Trash Unterschlupf bietet, während die andere dem Kaiserpaar vorbehalten ist – die Geisterwelt muss sich dazwischenquetschen. In Stuttgart wird zunächst klar zwischen einer Beton-Bienenwabe für die Färber-Familie und einem Tadao-Ando-Betonpavillon fürs Kaiserpaar geschieden – doch in der Mitte des zweiten Akts betritt Erstere Letzteren; von da an gerät alles durcheinander.


White Trash in Tadao-Ando-Pavillon: Das Färberpaar im kaiserlichen Falknerpavillon (Bild: Matthias Baus)

Endlich ziehen beide Produktionen einer textgetreuen Lesart eine konzeptuelle Umdeutung vor. Treliński erhebt so ein (bei Hofmannsthal nicht einmal zwischen den Zeilen zu erahnendes) Ehetrauma der auf Selbstverstümmelung rekurrierenden und mit Medikamenten imprägnierten Kaiserin zum Fluchtpunkt des Geschehens. Herrmann seinerseits siedelt die Handlung in einer Science-Fiction-Filmwelt zwischen „Dune“, „Abyss“ und „Alien“ an. Am Ende finden sich da nicht nur Kaiserin und Färberin, sondern auch der jeweilige Gemahl aufgrund einer (gentechnischen?) Manipulation höherer Mächte in anderen Umständen wieder – zum Schlussjubelgesang reißt der Bote Barak einen außerirdischen Wurm aus dem kugelrunden Bauch, bevor er sich dem panisch wegrückenden Kaiser mit gleicher Absicht nähert. Ist Trelińskis Regie-Konzept bloß sanft bei den Haaren herbeigezogen, so tut Herrmanns brachialer Eingriff Strauss‘ und Hofmannsthals Hymne auf heterosexuelle Liebesehe und Fruchtbarkeit rohe Gewalt an.


Als hätten sich Papageno und Papagena ins Raumschiff von „Alien“ verirrt: David Herrmanns Inszenierung versetzt Hofmannsthals allegorische Märchenhandlung in die Albtraumwelt von Ridley Scotts Science-Fiction-Horrorfilmen. (Bild: Matthias Baus)

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