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Der Tondichter als Klangingenieur

Aktualisiert: 29. Sept. 2022

Iannis Xenakis zum Hundertsten - eine Ausstellung im Pariser Musée de la musique

„Révolutions Xenakis“ ist die Ausstellung betitelt, mit der die Pariser Cité de la musique das mutmaßliche Hundertjahrjubiläum der Geburt von Iannis Xenakis begeht (mutmaßlich deshalb, weil selbst die Tochter des 2001 verstorbenen griechisch-französischen Architekten und Komponisten nicht hat eruieren können, ob dieser am 29. Mai 1921 oder 1922 das Licht der Welt erblickt hat). Die Konfliktstimmung der Kriegszeit hallt hörbar in vielen seiner Partituren nach, zumal in den frühen. Ob an den Massendemonstrationen gegen die Nazibesetzer ab 1941 oder an jenen gegen die Briten ab Ende 1944, der junge Ingenieurstudent war an allen Athener Protestaktionen jener Jahre mit dabei.


Ansicht der Ausstellung (Bild: zit.)

Das Orchesterstück „Metastasis“ (1953/54), gemeinhin als Xenakis‘ Opus eins angesehen, ist erklärtermaßen durch die Klänge und Rhythmen dieser an vorderster Front miterlebten Zusammenstöße inspiriert (ein Granatsplitter raubte dem künftigen Komponisten 1945 das linke Auge). Mit seinen irren Glissandi und seinen durch perkussive Pizzicati und grelle Blitze von Schlagzeug und Blech zerfetzten Clusterflächen stößt es in – buchstäblich – ungehörte Gefilde vor. Ähnlich revolutionär ist sein Konzeptionsprozess mittels Zeichnungen auf Millimeterpapier. Die Ausstellung vereint Dutzende der zum Teil unüblich groß dimensionierten grafischen Partituren, die Xenakis zeitlebens als Arbeitshilfe gebrauchte. Sie evozieren abstrahierte Wellenläufe, Farbspektren von Kinderhand, Myriaden von durch Striche verbundenen Stecknadelköpfen.


"Metastasis", grafische Partitur, 1953-1954 (Bild: Collection famille Iannis Xenakis)

Gleichermaßen faszinierend wie verwirrend, dürften Xenakis Kompositionsmethoden selbst für Berufsmusiker oft hermetisch bleiben. Eine Schau ist gewiss nicht das geeignete Medium, sie dem breiten Publikum auseinanderzulegen. Doch die vorliegende nennt zumindest die mathematischen Werkzeuge, derer sich der Tondichter und Ingenieur in Personalunion bediente: Stochastik und Statistik, Spiel- und Wahrscheinlichkeitstheorie. Und versinnbildlicht ihre Komplexität durch Rechenmaschinen und Computerprogramme aus grauer Vorzeit – Xenakis verwendete bereits 1962 IBM-Rechner.


Beim Hören der oft packend klangsinnlichen, an tönende Naturphänomene gemahnenden Kompositionen des Franko-Griechen spielt das Verständnis der ihnen zugrundeliegenden Kalkulationen keine Rolle. Xenakis relativierte überdies die Bedeutung der mathematischen Formeln: Sie würden „durch das musikalische Denken gezähmt und unterworfen“. Das klingende Anschauungsmaterial zu den stummen Partituren liefern via Abspielgerät fünfzehn der hundertfünfzig zwischen 1953 und 1998 entstandenen Werke – dankenswerterweise in voller Länge, zwischen sieben und siebenundvierzig Minuten Spielzeit. Die Auswahl ist schwerlich repräsentativ: Neben elektronischen Stücken und solchen für große Ensembles führt sie lediglich zwei Kammermusikwerke auf und keines mit Chor oder rein für Schlagzeug (Lücken, die Mitte März eine Konzertreihe in der Cité de la musique und in der benachbarten Philharmonie de Paris gefüllt hat). Dafür jedoch enthält sie etliche von Xenakis‘ besten Arbeiten und macht deren enorme Klangvielfalt – bei hohem Wiedererkennungswert – hörbar.


Doch geht die Schau noch weiter und setzt – wie der begleitende, materialreiche Katalog – das tönende Werk in Beziehung zum gebauten. Nach seiner Flucht aus dem bürgerkriegsversehrten Griechenland 1947 arbeitete Xenakis zwölf Jahre lang für Le Corbusier in Paris – erst als Ingenieur, dann als zunehmend autonomer Mitgestalter von Ikonen der Moderne wie der Cité radieuse in Marseille und dem Kloster La Tourette bei Lyon. Den Pavillon Philips für die Expo 58 in Brüssel schuf der Grieche praktisch allein – als Le Corbusier sich die Autorschaft an dem durch „Metastasis“ beeinflussten Bau zuschrieb, kam es zum Bruch zwischen den beiden. Mâkhi Xenakis widmet der Episode in ihrem anlässlich der Schau neu aufgelegten Buch „Iannis Xenakis. Un père bouleversant“ aufschlussreiche Seiten.


Modell des Pavillon Philips, um 1957/58 (Bild: zit.)

Nach 1959 verlegte sich die Bautätigkeit des Wahlfranzosen (dem Georges Pompidou 1964 den entsprechenden Pass verlieh) auf den Entwurf ephemerer Strukturen für seine Polytope. Mit diesem Begriff bezeichnete er Licht- und Tonspiele auf der Höhe der damaligen Zeit. Der Philips-Pavillon hatte diese bereits angekündigt: mit elektronischen Musiken von Xenakis und Edgar Varèse sowie einer durch Le Corbusier zusammengestellten clipartigen Montage kolorierter Schwarz-Weiß-Fotos. Letztere wird in der Schau auf eine große Leinwand ausgestrahlt, begleitet durch Xenakis‘ kohleknisternde Musique-concrète-Komposition „Concret PH“.


Diatope de Beaubourg, Skizze, 1975 (Bild: Collection famille Iannis Xenakis))
Diatope de Beaubourg, Aussenansicht (Bild: Collection famille Iannis Xenakis))
Diatope de Beaubourg, Innenansicht (Bild: Collection famille Iannis Xenakis))
Diatope de Beaubourg, Lichtspiele mit Publikum (Bild: Collection famille Iannis Xenakis))

In seinen Poly- und Diatopen für Montréal (1967), für die Cluny-Thermen in Paris (1972-74) und zur Eröffnung des Centre Pompidou daselbst (1978) verwendete das Multitalent statt einer Bildprojektion Lichtspiele. Auf einer zweiten Leinwand lässt eine mit Filmausschnitten durchsetzte Diaschau diese seinerzeit von Hunderttausenden besuchten Events wiederaufleben: Über einer Wiese am Boden liegender Blumenkinder kreuzen sich da dreifarbige Lasersäbel, derweil gleißende Sternchen an einem Himmel aus gespannten Metallkabeln flimmern. Flugs beamen die Kuratoren den leicht vergilbten Geist dieser seinerzeit avantgardistischen Multimediashow in die Gegenwart hinüber. So erlöschen im Ausstellungssaal periodisch die Lichter und rasen zu den elektronischen Klängen von „La Légende d’Eer“ Leuchtpunkt-Ketten über die Vitrinentische. Diese ruhen auf Regelflächen-Füssen, eine Anspielung des Szenografen Jean-Michel Wilmotte auf Xenakis‘ architektonisches Vokabular. Wie auch das Neumen-Fenster, hinter dem das Atelier des Schöpfers zu sehen ist, vollgestopft mit Kunst aus aller Welt und mit Büchern über Walfische und Vibrationen, Dionysos und Dinosaurier, Corbu und Chaos – eine Mischung, so undogmatisch und vielseitig wie der Besitzer der Bibliothek.


Wellen, Beziehungsnetze, zwischen Welten und Wesen gespannte Seile - das Atelier des Komponisten (Bild: zit.)


Révolutions Xenakis. Bis zum 26. Juni im Pariser Musée de la musique.

Katalog: Révolutions Xenakis. Éditions de l'œil/Musée de la musique - Philharmonie de Paris, Paris 2022. 320 S., 35 Euro.

Mâkhi Xenakis: Iannis Xenakis. Un père bouleversant. Actes Sud, Arles 2022. 248 S., 32 Euro.
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