top of page

Wenn die Metro an Silvester sardinenbüchsenvoll ist

marczitzmann
Silber für Paris: Laut einer internationalen Untersuchung ist Frankreichs Kapitale die zweitmobilste Stadt der Welt

 


Szene aus dem Pariser Verkehrswesen: In der vergangenen Silvesternacht wollte der Verfasser dieser Zeilen um halb drei Uhr vom neunten Arrondissement zurück ins heimische elfte. Eine Dreiviertelstunde zu Fuß, aber bloß neun Stationen mit der Metro – die Wahl war schnell getroffen. Ein erster Zug war derart sardinenbüchsenvoll, dass an Einsteigen nicht zu denken war. Ein zweiter, der erst nach acht langen Minuten einrollte, ebenso; dito der dritte. Für den vierten, der der letzte sein sollte in dieser Nacht, waren volle siebzehn Minuten Wartezeit angekündigt, nach Pariser Maßstäben eine halbe Ewigkeit. So zog der Verfasser dieser Zeilen zu Fuß los, versuchte sein Glück unterwegs mit zwei Taxifahrern (die ihn erwartungsgemäß mit scheeler Schnute stehenließen) und traf endlich kurz vor vier Uhr zuhause ein – anderthalb Stunden, nachdem er aufgebrochen war.


Was ist das für eine Weltstadt, die nicht fähig ist, in der Silvesternacht Transporte für ihre Bewohner bereitzustellen? Nun, gemäß dem jüngsten „Urban Mobility Readiness Index“ ist Paris die am zweitbesten platzierte unter siebzig ausgewählten Städten weltweit. Dieser Index des Oliver Wyman Forum und der kalifornischen Berkeley-Universität untersucht – nunmehr zum sechsten Mal –, wie ausgewählte Metropolen und Ballungszentren rund um den Erdball Formen der Mobilität schaffen, die „integriert, innovativ, zugänglich, nachhaltig, kollaborativ und widerstandsfähig“ sind. Bewertet werden drei Kriterienfelder: die Annahme neuer Technologien, das öffentliche Verkehrsnetz sowie die Umweltverträglichkeit des jeweiligen Systems. Paris, das seit 2019 in der Rangliste um dreizehn Plätze aufgestiegen ist, liegt im Gesamtschnitt um fast 9 Prozent über dem europäischen Mittel und gut 18 Prozent über dem weltweiten. Nur San Francisco schneidet noch besser ab – und das nur dank seiner konkurrenzlosen Technophilie.


Wie Paris im jüngsten „Urban Mobility Readiness Index“ abschneidet (Bild: Oliver Wyman Forum and University of California, Berkeley)
Wie Paris im jüngsten „Urban Mobility Readiness Index“ abschneidet (Bild: Oliver Wyman Forum and University of California, Berkeley)

Der Pariser, stets miesmacherisch, frohlockt nun nicht, dass er in einer fantastischen Stadt lebt – sondern mault, dass es anderswo, wie’s scheint, noch viel schlimmer ist. Dennoch wirft er, stets neugierig, einen frischen Blick auf seine mobile Umwelt. Die Metro ist, mit täglich weit über 4 Millionen Nutzern, oft überfüllt, fährt aber sehr regelmäßig (ungefähr alle zwei Minuten zu Stoßzeiten) und für einen Tarif, der wohlfeiler ist als in den meisten Städten mit ähnlichem Lebensniveau: 2,50 Euro der Einzelfahrschein. Was Paris indes einen Spitzenplatz in Sachen „öffentliches Verkehrsnetz“ sichert, ist laut dem „Urban Mobility Readiness Index“ der im Bau befindliche „Grand Paris Express“ (GPE): die Erweiterung der Metrolinie 14 in Richtung Banlieue sowie die Schaffung von nicht weniger als vier neuen Linien in der Hauptstadtregion Île-de-France mit insgesamt 68 neuen Stationen – das größte Infrastrukturprojekt Europas. Die Linien 15, 16, 17 und 18 werden das Schienennetz der Metro um 200 Kilometer erweitern und sollen bis zu ihrer Fertigstellung 2031 über 36 Milliarden Euro kosten.


Einen Vorgeschmack des GPE geben die zwölf neuen Stationen der Linie 14. Diese verbindet, die Stadt in einer Zackenlinie durchquerend, die Königsnekropole Saint-Denis im Norden mit dem Orly-Flughafen im Süden. Gleich der Gare Thiais – Orly des Architekturbüros Valode & Pistre mit ihrer spektakulären weißen Kreuzrippendecke sind mehrere der neuen Bahnhöfe architektonisch von Interesse. So insbesondere die Gare Saint-Denis – Pleyel von Kengo Kuma und die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault. Kuma ist der Autor von Tokios Nationalstadion sowie subtil kontextbezogener Kulturbauten in Aix-en-Provence, Besançon, Boulogne-Billancourt und Marseille. In Saint-Denis hat der Japaner einen Bahnhof entworfen, der einen zeitgenössischen Zen-Tempel evoziert. Glas, blitzendes Metall, vor allem aber Holz (außen Eiche, innen Lärche); ein leicht lesbares Spiel von Vertikalen, Horizontalen und Diagonalen; dazu indirektes warmes Kunst- sowie von oben einfallendes Naturlicht: Der Bau wirkt – zumal Monate nach seiner Eröffnung noch schwach frequentiert – schier zu ruhig.


Die Gare Thiais – Orly des Architekturbüros Valode & Pistre (Bild: zit.)
Die Gare Thiais – Orly des Architekturbüros Valode & Pistre (Bild: zit.)
Die Gare Thiais – Orly des Architekturbüros Valode & Pistre (Rendering: Valode & Pistre)
Die Gare Thiais – Orly des Architekturbüros Valode & Pistre (Rendering: Valode & Pistre)
Die Gare Saint-Denis – Pleyel von Kengo Kuma (Bild: zit.)
Die Gare Saint-Denis – Pleyel von Kengo Kuma (Bild: zit.)
Die Gare Saint-Denis – Pleyel von Kengo Kuma (Bild: zit.)
Die Gare Saint-Denis – Pleyel von Kengo Kuma (Bild: zit.)
Die Gare Saint-Denis – Pleyel von Kengo Kuma (Bild: zit.)
Die Gare Saint-Denis – Pleyel von Kengo Kuma (Bild: zit.)

Auch in Dominique Perraults Gare Villejuif – Gustave Roussy hört man den Wind über den Gleisen pfeifen. Doch ungleich Kuma drückt sich der Autor der neuen Bibliothèque nationale de France sowie des Velodroms und der Schwimm- und Sprunghalle im Berliner Europasportpark mit Emphase aus. Dramatik! Auftauchen aus 48 Metern Tiefe! 32 Rolltreppen, über Kreuz laufend in einem gigantischen Metallzylinder unter einem Glasdach mit Spinnennetzstruktur! Reflexionen und Vexierbilder – in Fritz Langs aktualisiertem Metropolis scheint hier Iron Man auf Spider-Man zu treffen. Am Tag unseres Besuchs, kurz nach der Inbetriebnahme des Bahnhofs am 15. Januar, glichen die wenigen Anwesenden nicht stumpf vorbeihetzenden Fahrgästen, sondern staunenden Humanoiden auf Architekturpromenade. An die Vorgabe der Verfasser der „Architekturcharta des GPE“, die Struktur, wo möglich, unverhüllt zu lassen und einen Wow-Effekt zu vermeiden, der auf die Länge ermüden könnte, hat sich Perrault klar nicht gehalten. Einzig eine Paulownia mochte er auf dem Vorplatz pflanzen – der veilchenduftende Kaiserbaum soll das Wahrzeichen aller 68 Bahnhöfe des GPE sein.


Die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault (Bild: zit.)
Die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault (Bild: zit.)
Die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault (Bild: zit.)
Die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault (Bild: zit.)
Die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault (Bild: zit.)
Die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault (Bild: zit.)
Die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault (Bild: zit.)
Die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault (Bild: zit.)
Die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault (Bild: zit.)
Die Gare Villejuif – Gustave Roussy von Dominique Perrault (Bild: zit.)

Wie nun sehen die künftigen Züge aus? Im Vorort Saint-Ouen-sur-Seine beantwortet die Fabrique du métro alle Fragen diesbezüglich. Der Ausstellungsort lässt sich in Person oder – Stichwort „Annahme neuer Technologien“ – auch virtuell besichtigen. Sein Parcours illustriert alle Etappen der Entstehung der neuen Linien, vom Tunnelbau bis zur Gestaltung der Signaletik. Die Metros der Zukunft, erfährt man hier, sind breiter, passen ihre Beleuchtung der Tageszeit an und bieten, wie Fernzüge, WLAN und USB-Ladebuchsen. Sie bremsen elektrisch und speisen die so gewonnene Energie zurück ins Netz. Die geradlinigere Gleisführung verspricht weniger Rütteln und Schütteln; das Fahren im Stehen soll angenehmer werden. Auf den Quais endlich erhalten die Fahrgäste Informationen in fünf Sprachen und erfahren im Voraus, wo sie sich am besten platzieren, um in die am wenigsten stark besetzten Waggons einzusteigen.


Im Innern eines der künftigen Waggons: Führung in der Fabrique du métro (Bild: Société des grands projets)
Im Innern eines der künftigen Waggons: Führung in der Fabrique du métro (Bild: Société des grands projets)

Wer hätte da noch Lust, Auto zu fahren? Nur drei von zehn Stadtparisern besitzen ein solches Vehikel – und die Gemeindeverwaltung tut alles, um sie zu degoutieren. Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit auf dem Périphérique, der täglich von 1,2 Millionen Fahrern benutzten Ringstraße, von 90 auf 80, dann 70, dann 50 Stundenkilometer; Einführung eines 5,5 Quadratkilometer großen innenstädtischen Sperrgebiets für den individuellen Durchgangsverkehr; Schaffung einer Großpariser Umweltzone mit zunehmend strengen Auflagen; höhere Parkgebühren für SUVs; Tag ohne Auto; aber auch Ansporn zu Fahrgemeinschaft und Carsharing: Seit 2002 ist der Autoverkehr in Paris um weit über die Hälfte zurückgegangen – und die Emission von Treibhausgas und von Feinstaub in einem noch stärkeren Maß. Die Tage, da die Pariser Boulevards und Avenuen von qualmenden Metallstaus überquollen, sind lang vorbei.


Trotzdem – und auf den ersten Blick paradox – hat sich der Busverkehr in den letzten Jahrzehnten drastisch verschlechtert. Zwei Statistiken: Im Jahr 2000 betrug die durchschnittliche Busgeschwindigkeit zu Stoßzeiten 15 Stundenkilometer; Ende 2024 waren es bloß noch deren 8,85. Noch ein paar Jährchen, und man kommt zu Fuß rascher vom Fleck. Ein Nutzerverband schätzte 2021, Busse verbrächten 39 Prozent ihrer Zeit im Stillstand. Und das nicht nur vor roten Ampeln, sondern auch wegen Straßenbauarbeiten, wegen Lieferwagen, die „nur für zwei Minuten“ auf der Busfahrspur stehenbleiben, vor allem jedoch wegen Radfahrern, die den Weg verstellen. Das ist umso frustrierender, als die Pariser Busse formschön sind, klimatisiert, allesamt elektrisch oder mit Biomethan betrieben – und (noch) weniger teuer als die Metro! Doch kein Pariser nimmt mehr den Bus, wenn er pünktlich ankommen will. Allein zwischen 2018 und 2023 ist ein Drittel der Nutzer abgesprungen! Die Stadtverwaltung hat das Problem – endlich – erfasst und verspricht Abhilfe.


Mit dem 12 Meter langen Modell „Bluebus“ wurde ab Ende 2016 erstmals in Europa eine Buslinie zu 100 Prozent elektrisch betrieben. (Bild: Wikipedia)
Mit dem 12 Meter langen Modell „Bluebus“ wurde ab Ende 2016 erstmals in Europa eine Buslinie zu 100 Prozent elektrisch betrieben. (Bild: Wikipedia)

Kaum verhohlen geben ihre Vertreter auch zu, dass der Hauptgrund für die zunehmende Lähmung des Busverkehrs die lange Zeit einseitige Förderung des Radverkehrs war. Das Fahrrad! Wie eine invasive Spezies hat dieses fragile Gefährt ein scheinbar uneinnehmbares Territorium erobert – 1995 gab es in Paris gerade einmal 6 Kilometer Radwege. Und hat das gewonnene Land den eigenen Bedürfnissen angepasst: Die Lichterstadt soll bis 2026 knapp 500 Kilometer reine Radwege zählen, zuzüglich den (heute rund 1000) Kilometern, die Räder mit Autos und Bussen teilen. Die Einführung des Verleihsystems Vélib‘ war 2007 eine Sensation, eine Sache für Snobs, Selbstmörder und Spitzensportler – heute gibt es fünf Mietservices für (auch elektrische) Räder und besitzen viele Pariser gar ihren eigenen Drahtsesel. Auf einem solchen legen sie über 11 Prozent ihrer Wege zurück – gegen bloß noch deren 4 in einer Blechkiste. Doch werden 53 Prozent der Strecken weiterhin auf Schusters Rappen bewältigt: Paris bleibt, der frechen Radfahrer ungeachtet, das Paradies der Fußgänger.


Radverkehr auf der Rue de Rivoli 2020 (Bild: flickr)
Radverkehr auf der Rue de Rivoli 2020 (Bild: flickr)

Schlecht steht es hingegen um Bewegungsbehinderte. Frankreichs Kapitale ist eine alte, sehr dicht bebaute Stadt. Die überirdischen Verkehrsmittel Bus und Tram sind heute in Gänze für Invaliden zugänglich, die Metrolinien des GPE werden es ebenfalls sein. Aber die „historische“ Untergrundbahn bildet eine schier unüberwindliche Hürde. Gänge ziehen sich endlos, es geht treppauf, treppab, trotz des guten Willens des Begleitpersonals ist Metrofahren für Bewegungsbehinderte oft nervenzehrend. Offiziell sind lediglich 9 Prozent der Stationen für sie eingerichtet (laut Verbänden sogar bloß deren 3) – gegen ein Drittel in der kaum jüngeren Londoner Tube. Allein für die Linie 6, die teils oberirdisch verläuft und drum etwas weniger schwierig anzupassen wäre, wurden die nötigen Arbeiten auf 600 bis 850 Millionen Euro und eine Dauer von fünfzehn Jahren veranschlagt. Doch soll man ganze Linien renovieren oder lieber einzelne strategische Stationen wie Hauptumschlagplätze? Und was ist strategisch? Sind es Stationen nahe Krankenhäusern und Bildungsstätten nicht auch?


Die neuen Metrolinien des GPE werden von A bis Z behindertengerecht sein, selbst die Ticketautomaten wurden im Hinblick auf ihre Ergonomie für Rollstuhlfahrer entworfen. (Bild: Société des grands projets)
Die neuen Metrolinien des GPE werden von A bis Z behindertengerecht sein, selbst die Ticketautomaten wurden im Hinblick auf ihre Ergonomie für Rollstuhlfahrer entworfen. (Bild: Société des grands projets)

Neben dem Hauptproblem der mangelnden Behindertengerechtigkeit der Metro steht Paris laut dem „Urban Mobility Readiness Index“ noch vor anderen Herausforderungen. Manche Bewohner klagen über Licht- und Lärmverschmutzung, andere über ungenügende Ladeinfrastrukturen für Elektroautos – in beiden Bereichen ist die Entwicklung indes klar positiv. Schwieriger dürfte es sein, den Rückstand gegenüber San Francisco aufzuholen, was Investitionen in künstliche Intelligenz zwecks Forschung zur Mobilität von Morgen betrifft. Als selbsternannte natürliche Intelligenz möchte man dem Großpariser Verkehrsbetrieb RATP da raten, einstweilen schon einmal mehr Züge in der Silvesternacht bereitzustellen…

 

Comments


Melden Sie sich an, um über neue Beiträge informiert zu werden

Danke für Ihre Anmeldung!

© 2022 für Leben wie zit. in Frankreich. Mit Wix.com geschaffen.

bottom of page