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Von Bashō bis Bolt

Zum Abschluss der Paralympischen Sommerspiele 2024 inszenierte das Pariser Théâtre de la Ville mit einem über zehnstündigen „poetischen Marathon“ die Stabübergabe zwischen Paris und Los Angeles


Organisatorische Großtat, Charmeoffensive der verschrienen Pariser, Messlatte für alle künftigen Olympiaden: mit den Paralympischen Spielen endete gestern Frankreichs sommerlich verzauberte Sportparenthese. Das kulturelle Begleitprogramm verdiente einen eigenen Medaillenregen, darunter eine goldene für das Théâtre de la Ville. Das durch Emmanuel Demarcy-Mota geleitete Mehrspartenhaus an der Place du Châtelet stemmte am Samstag einen über zehnstündigen „marathon poétique“: eine Stabübergabe in freien oder gebundenen Versen zwischen frankophonen Dichtern und Wortkünstlern aus Los Angeles, wo 2028 die nächsten Sommerspiele stattfinden.


Slammen auf dem Ring: Capitaine Alexandre und die Cellistin Lola Malique bei der Eröffnung des „marathon poétique“ – im Hintergrund das Théâtre de la Ville (Bild: Nadège Le Lezec)

Zur Aufwärmung hieß Fanny Taillandier die um einen Boxring unter regenwolkigem Himmel versammelten Zuschauer und -hörer die Muskeln vom Musculus levator scapulae am Hals bis zum Musculus abductor hallucis am Fuß arbeiten lassen: Ihr Tonfall steigerte sich dabei vom schwebenden Selbstaufwertungsratgeber über den alerten Laiencoach bis zum panischen Profitrainer. Vier der folgenden drei Dutzend Beiträge befassten sich mit individuellen Athletenfiguren. Jene des Literaturkritikers und Goncourt-Jurors Pierre Assouline und des kalifornischen Politpoeten Matt Sedillo über den Judoka Teddy Riner beziehungsweise den Ringer Mijaín López gerieten allzu hagiografisch. Lehrreich und ergreifend dagegen jene des Romanciers Stéphane Audeguy über den paralympischen Bogenschützen Daniel Letulle und des Schriftstellers und Performers Christophe Fiat über den Schwimmer und Tarzan-Darsteller Johnny Weissmüller.


„Sie fühlen sich gut… Sie schwenken eine kleine Fahne… oder Sie schwenken eine große Fahne… Sie schauen sich ein Tennismatch an… Sie schauen sich Synchronschwimmen an… Sie fühlen sich gut…“ Fanny Taillandier im einlullenden Self-Improvement-Singsang (Bild: Nadège Le Lezec)

Unter den „engagierten“ Eingaben zogen jene von Diaty Diallo Verbindungslinien zwischen Sport und Politik. Erst zappte die im sozial benachteiligten Département Seine-Saint-Denis lebende Autorin im Geiste auf dem Smartphone hin und her zwischen Wettkampfübertragungen und tragischen Weltnachrichten, ihren eigenen unkritischen Bilderkonsum hinterfragend. Dann erstellte sie eine bitter-beißende Liste in Frankreich beliebter „Polizeisportarten“, vom Granatenwerfen bis zur (Verfolgungs-)Jagd auf junge farbige Zweiradfahrer.


Düstere Wolken: Diaty Diallo übt Selbst- und Zeitkritik. (Bild: Nadège Le Lezec)

Auffällig die formalen und inhaltlichen Unterschiede zwischen Franzosen und Amerikanern. Erstere kamen oft läppisch-uncharmant, ja ruppig-rabiat daher. Letztere trachteten mit sonniger Leutseligkeit und demonstrativer Selbstsicherheit für sich einzunehmen, gleich dem Slammer Steve Connell den direkten Kontakt mit dem Publikum suchend: „Hello Paris, how are we feeling, are we happy tonight in the City of Lights?“. Etliche Angelenos verwendeten zudem alttradierte Formen wie Sonett (Sarah Yanni) oder Villanelle (Lynne Thompson). Uchechi Kalu verfasste gar fünf Quintains (Fünfzeiler) über Athleten und Künstler in Personalunion – etwa über den Schwimmer und Musiker Robin Surgeoner: „I strum the clear blue / Stroke by stroke / Beat the slick / Glide water / Tune my body to the rhythm“.


Trotz aller Unterschiede vereint: Karen Bass (links) und Anne Hidalgo, die Bürgermeisterinnen von Los Angeles und von Paris, mit Emmanuel Demarcy-Mota, dem Direktor des Théâtre de la Ville (Bild: Nadège Le Lezec)

Auch zwei Wahl-Angelenos, die in Oakland geborene Dichterin und Drehbuchautorin Chinaka Hodge und der an der University of California lehrende Franko-Kongolese Alain Mabanckou, zogen Parallelen zwischen ihrem eigenen Schreibhandwerk und der Selbstdisziplin des Athleten. Doch der zugleich sprachgewaltigste und sportlichste Auftritt war jener des 71-jährigen Dany Laferrière. Einen Hula-Hoop-Reifen um die Hüften schwingend, schlug der Académicien français einen Bogen von Bashō (Matsuo) zu Bolt (Usain) – ist Wandern, wie es der japanische Haikudichter und Reisediarist betrieb, nicht der schlichteste Sport?


(Bild: Nadège Le Lezec)

Dem „marathon poétique“ hatte das Théâtre de la Ville seit Ende Mai eine Fülle von Veranstaltungen rund um die Spiele vorangehen lassen. Etwa einen weltweiten Wettbewerb für olympische Slogans, dessen 24 siegreiche Eingaben namentlich auf Liftfaßsäulen, in der Metro und in Bahnhöfen angeschlagen wurden. Oder das jähe Ausstrahlen von 42 Gedichten (darunter die Hälfte Auftragswerke) zum Thema „Sport und Körper“ in Museen, Parks – und sogar in den totenstillen Gängen der Katakomben. Nicht zu vergessen „poetische Konsultationen“ im Tête-à-Tête mit je einem Autor, die in eine dichterische oder musikalische Verschreibung mündeten.


Wie die afrofeministische Autorin Kiyémis in einem sanft gegen den Strom anschwimmenden Beitrag des „marathon poétique“ festhielt, gibt es Leute, die mit Fähnchengewedel, Stadiongetrampel, Hymnengeschmetter nichts am Hut haben. Ihnen boten Initiativen wie jene des Théâtre de la Ville die Gelegenheit, trotzdem mitzuvibrieren – auf kultivierte Art und Weise.


(Bild: Nadège Le Lezec)

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