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marczitzmann

Silvana Manganos perlfarbenes Wollkostüm

Olivier Saillard und Tilda Swinton “verkörpern Pasolini“ in ihrer fünften Pariser Modeperformance


Im Jahr 2012 erfanden Olivier Saillard und Tilda Swinton – in Paris, wo sonst? – ein kurioses Genre. Die „Modeperformance“ ist eine Bühnenkunst – „Bühne“ hier in dem Sinn, dass es eine abgegrenzte Spielfläche gibt, zu der hin sitzende Zuschauer blicken –, die Anleihen bei Tanz und Theater macht, ja sogar bei Film, Fotografie und Modedefilee. Ihr Erkennungs-, besser: ihr Markenzeichen ist, dass sie Kleider in den Mittelpunkt stellt: ihre pure Materialität, ihren Entstehungsprozess, ihre individuelle Geschichte, die Ge- und Verbote des Modebetriebs.


Die jüngste Performance von Saillard & Swinton, „Embodying Pasolini“, wurde am 3. Dezember im Pariser Ableger der Mailänder Fondazione Sozzani aus der Taufe gehoben. Eine ehemalige Industriehalle im düstersten Teil der Lichterstadt, nördlich von La Chapelle: Das Weiß der Wände potenziert die Weite des Riesenraums unter dem verglasten Satteldach, schwarzgestrichene Eiffel-Trägerstrukturen treten grafisch hervor. In der Mitte des langgezogenen Saals ist der Boden mit Packpapier tapeziert; diesen ebenerdigen „Laufsteg“ umgrenzen auf drei Seiten je zwei Reihen Klappstühle.


Swinton tritt auf. Sie trägt eine Mischung aus Laborkittel und Nesselmodell: halb minimalistisch-steril, halb unfertig-irreal. Aus Seidenpapier packt sie vage kopfförmige Holzgebilde des römischen Laboratorio Pieroni aus, des führenden Herstellers von Hüten für die Filmindustrie. Diese primitiv skulpturalen Objekte ordnet sie auf zwei Tischen im Hintergrund an. Das kontinuierliche Gebläse der Belüftungsanlage erzeugt einen leichten Schwindel, der die Fremdheit des Geschehens verstärkt. Dann trägt Saillard, ebenfalls mit hellem Laborkittel über der blauen Arbeitshose, ein erstes Kleidungsstück herein.


Wie alle knapp dreißig Kreationen, die im Lauf des Abends zu sehen sein werden, wurde es durch Danilo Donati für einen Spielfilm von Pier Paolo Pasolini entworfen. Der 2001 verstorbene Kostümbildner hatte seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit italienischen Regisseuren wie Rossellini, Bolognini und Benigni zusammengearbeitet, vor allem jedoch mit Fellini und Pasolini, für die er sechs beziehungsweise neun Filme „einkleidete“ (darunter so unvergessliche Augensymphonien wie Fellinis „Satyricon“ und „Roma“). Alle in „Embodying Pasolini“ gezeigten Sammlungsstücke sind Leihgaben der römischen Sartoria Farani, deren Gründer, Piero Farani, Donatis Entwürfe verwirklicht hatte.


„The Gospel According to St. Matthew“, verkündet Swinton feierlich. Die Spielregel ist einfach: Saillard und zwei Helfer tragen Roben, Mäntel und Hüte herbei, die Schauspielerin führt diese vor. Manche hält sie einfach an die Brust, in andere schlüpft sie hinein, direkten Hautkontakt meidend. Einige Stücke sind Ikonen: Silvana Manganos perlfarbenes Wollkostüm als Giocaste in „Edipo Re“ und zwei ihrer Madonnengewänder in „Il Decameron“, das scharlachrote Seiden-Outfit von Laura Betti als Donna di Bath in „I racconti di Canterbury“. Anderen eignet ein sozusagen sentimentaler Wert, allen voran Pasolinis grüner Kutte als Chaucer im letztgenannten Werk und Totòs schwarzem Strohhut als mit einem Raben konversierender Spießbürger in „Uccellacci e uccellini“. Daneben finden sich auch viele Figurantenkostüme, namentlich aus dem orientalisch schillernden Märchenstreifen „Il fiore delle mille e una notte“.


Immer wieder ahmt Swinton eine Geste, eine Mimik nach, nimmt gefrorene Posen an, als transponiere sie Filmstills in die dritte Dimension. Orgelmusik der Renaissance, ein belkantistisches Chopin-Nocturne, Stravinskys „Histoire du soldat“ und Instrumentalstücke namibischer Buschmänner begleiten das spröde Ritual. Am Schluss nimmt die weiße Hexe aus Schottland Kostümstücke aus „Salò o le 120 giornate di Sodoma“ von Büsten herab, trägt sie vor einen Spiegel und legt sie mit unnachahmlich Swintonschen Gesichtsausdrücken wieder ab: herabhängende Mundwinkel, abgespannte Züge, schmale Lippen, tote Augen – ein Inbild der zunehmenden Verstörung.


„Embodying Pasolini“ ist die fünfte Modeperformance von Saillard & Swinton – leider auch die bis anhin schwächste. Die Idee, Filmkostüme zu thematisieren, hat ihren Reiz; und die Leihgaben aus Rom sind gewiss hochkarätig. Aber Dutzende sukzessiver „Anproben“ lassen keine Handlung, keine Spannung entstehen. Und mit hundertfünf Minuten Spielzeit ist die Performance mehr als doppelt so lang wie jede der vorangegangenen. „The Impossible Wardrobe“ etwa dauerte 2012 – mit einem ähnlichen Konzept – lediglich eine Dreiviertelstunde. Swinton präsentierte da Museumsstücke, die illustren Figuren gehört hatten: einen Gehrock Napoleons, einen Hermelinkragen von Sarah Bernhardt, eine Tunika von Isadora Duncan… „Eternity Dress“ führte im Folgejahr die Entstehung eines Couture-Kleids vor Augen – der Prozess, vom ersten Maßnehmen über das Anfertigen des Schnittmusters, die Wahl des Stoffes, der Ärmel, des Kragens bis zu jener der Schuhe und Accessoires, zeitigte ein hier komisches, da kontemplatives Kabarettstück. „Cloakroom“ trieb 2014 die Theatralik auf die Spitze: Zuschauer wurden eingeladen, der blond-bleichen Garderobenfrau ihre Mäntel oder Schals zu überlassen – prompt flüsterte diese zu den Kleidungsstücken, schmiegte sich in sie und hinterließ parfümierte Taschentücher oder Gedichtfetzen in den Taschen. „Sur-exposition“ endlich legte 2016 den Akzent aufs Konzeptuelle: Swinton und eine Mit-Performerin namens Charlotte Rampling hielten da schwarze Bilderrahmen zum Publikum hin – und zauberten allein mit Worten ikonische Modefotos von Avedon, Newton oder Penn darein!


All diese Performances wurden im Rahmen des Festival d’Automne à Paris in großen Museen gezeigt: dem Palais de Tokyo, der Ecole des beaux-arts, dem Musée d’art moderne de Paris, dem Palais Galliera (das städtische Modemuseum, das Saillard zwischen 2010 und 2018 mit Brio leitete). Sie sind jeweils hoffnungslos ausverkauft – nicht nur wegen dem bescheidenen Fassungsvermögen der gewählten Spielorte, sondern auch, weil sie Möchtegerndesignern und Moderedakteurinnen, die Mühe haben, das Wort „Mokassin“ zu buchstabieren, philosophisch-existenzielle Perspektiven eröffnen. Doch bei allem Hype: Die Performances von Saillard & Swinton bringen frische Bergluft in den Tal-Mief der Branche. Sie leisten für die Mode das, was Jérôme Bel – mit freilich höherem künstlerischen Ertrag – im Bereich des Tanzes tut: Die Kulissen und Kehrseiten einer Disziplin ausleuchten.



Ein teurer Bildband dokumentiert die Vorstellungen von „Embodying Pasolini“, die 2021 in Rom und 2022 in Solomeo und Paris gegeben wurden.

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