Die erste Pariser Retrospektive zum Werk von Jean Painlevé, der das vertraute Bestiarium des französischen Litorals filmisch verfremdet hat
„Le Vampire“, zwischen 1939 und 1945 entstanden, ist ein Klassiker des Dokumentarfilms. Doch hat der knapp neunminütige Kurzfilm nichts Vorhersehbar-Formatiertes. Zu Beginn folgen einander, rasch und unverbunden, Aufnahmen segelnder Seepferdchen, kraxelnder Kraken, räuberischer Raupen, zwickender Zecken. Der Bauch eines kamerunischen Käfers habe, so die Erzählerstimme aus dem Off, vielleicht „Negermasken“ inspiriert – den Schwarzweiß-Streifen grundieren die Klänge zweier Hits aus Duke Ellingtons lautmalerischer „Jungle“-Periode. Dies alles erkläre – aber gemäß welcher Logik? –, dass die menschliche Vorstellungskraft den titelgebenden Vampir in ein menschliches Wesen verwandelt habe, welches Blut direkt aus einer dem Menschenhals zugefügten Wunde sauge – „wie Nosferatu in Murnaus Film“. (An dieser Stelle zuckelt besagter karpatischer Graf, kreidebleich und rattenzähnig, über die Leinwand).
Doch der Vampir existiert, fährt die Off-Stimme fort: Sein wissenschaftlicher Name lautet „Desmodus rotondus“. Die zweite Hälfte des Filmchens zeigt ein eher mickriges Exemplar dieser südamerikanischen Fledermausart, wie es einem unbeeindruckt dreinblickenden Meerschweinchen Blut von der Nase schlürft. Ist die musikalische Anspielung auf Chopins Trauermarsch am Ende dieser mehr belustigenden als beunruhigenden Sequenz nicht eine Spur überrissen? Sie ist es keineswegs, fasst man die – durch Desmodus rotondus übertragenen – Trypanosomen ins Auge, die eine mikroskopische Aufnahme da flüchtig um menschliche Blutzellen herumwuseln zeigt. Sie können als eine Metapher für eine andere, ideologische Infektion verstanden werden, die zur Entstehungszeit des Filmchens die Hirne von Frauen und Männern in ganz Europa befiel.
Viel von dem, was der Filmemacher und Widerständler Jean Painlevé war, findet sich – explizit oder implizit – in „Le Vampire“. Der 1902 in Paris geborene und 1989 daselbst verstorbene Sohn des bedeutenden Mathematikers und zweimaligen französischen Premierministers Paul Painlevé gilt als ein Pionier des Dokumentarfilms, mit Fokus auf die Tierwelt, und insbesondere auf Frankreichs glitschige Küstenfauna. Sein Leben lang hat er Krabben und Nesseltiere gefilmt; sein berühmtester Streifen gilt der Fortpflanzung der Seepferdchen. Im Gegensatz zum ungleich bekannteren Jacques-Yves Cousteau arbeitete Painlevé nie unter der Meeresfläche, sondern lichtete die Helden seiner Filme meist hinter dem Glas von Aquarien ab. Aus seinen für die Forschung entstandenen, rein beobachtenden films de recherche montierte er zwischen 1927 und 1982 zwanzig films de vulgarisation. Diese waren zunächst für das Vorprogramm von Lichtspieltheatern bestimmt und setzten auf allerlei Kunstgriffe, um die Gunst gemeiner Kinogänger zu gewinnen: Begleitmusik, oft eigens komponiert; Zwischentitel oder gesprochene Texte, mit Humor gewürzt; dazu die Vermenschlichung der tierischen Protagonisten, vor allem aber die Befruchtung wissenschaftlicher Objektivität mit künstlerischer Subjektivität. So entstanden schwer klassifizierbare filmische Objekte, die laut eigener Definition zugleich Instrumente der Kultur, Lehrmittel, Schauspiele und Kunstwerke waren.
Im Pariser Jeu de Paume entwirft jetzt die erste Retrospektive, die eine französische Institution Jean Painlevé ausrichtet, ein Porträt in vier Facetten. Das erste Kapitel, dem Litoral gewidmet, zeigt fünf Filme, das zweite, „objectivité scientifique“ überschrieben, deren sieben. Sie tragen Titel wie „Das Ei des Stichlings“ (Painlevés Erstling von 1927) oder „Die Seeigel“ und zeigen klar den Unterschied zwischen films de recherche und films de vulgarisation. Der universitäre Film über Krabben von 1964 etwa leuchtet seinen Gegenstand vor schwarzem Hintergrund aus, nimmt seine Häutung unter die Lupe und seziert ihn gleichsam in den Off-Kommentaren. Der für das große Publikum bestimmte Streifen von 1930/31 hingegen zeigt zu einer beschwingten, oft auch spannungsvollen Instrumentalmusik Nahansichten, die zur ästhetisierenden Abstraktion neigen: enorme Köpfe, federartige Schwänze, das Vibrieren des Herzens oder die Zirkulation der Blutkörperchen in einem Bein. James Leo Cahill nennt den Film „Les Oursins“ von 1928 in einem gehaltvollen Katalogbeitrag gar einen Architekturfilm mit zoologisch-surrealistischem Einschlag: Die auf der Kinoleinwand bis ums 200 000-fache vergrößerten Bilder verwandelten den „Spaziergang“ zwischen den Stacheln des Seeigels in die Exploration einer Ruinenlandschaft, deren Säulen bei weiterem Zoomen kandelaberartige Greiforgane offenbarten, deren „Wimpern“ sich ihrerseits vergrößern ließen – und so weiter und so fort…
Eben diesen Aspekt der – schier künstlerischen – Verfremdung thematisiert das dritte Kapitel. Für die Besucher der auf stille und bewegte Bilder spezialisierten Kunsthalle im Tuilerien-Park ist dieser Abschnitt wohl der faszinierendste: Er beleuchtet Painlevés Beziehungen zur Avantgarde der 1920er und 1930er Jahre und namentlich zu den Surrealisten. Eine ganze Wand voller Photogramme bezeugt deren hohen ästhetischen Reiz – einige von ihnen wurden seinerzeit in Georges Batailles Revue „Documents“ abgedruckt. Neben dem eingangs erwähnten Säugetier-Ausreißer „Le Vampire“ sind hier auch die Streifen „La Pieuvre“ und „Assassins d’eau douce“ zu sehen. In ersterem Schwarzweißfilm von 1928 zeigt die albtraumhaft fliederfarben kolorierte Eingangssequenz eine Krake durch ein offenes Fenster sowie einen Baumstamm hinab glitschen, über eine liegende Puppe und einen grinsenden Totenschädel hinweg kraxeln; dann bekämpfen zwei Tiere in einem Aquarium einander bis zum Tode des einen, wird ein drittes am Strand durch einen Fischer gefangen, quetscht sich ein viertes durch die Maschen eines Keschers, macht ein fünftes Jagd auf einen Krebs – stumme Bilder von schreiender Gewaltsamkeit. Letztgenannter Streifen von 1947 führt zu den aufgekratzten Klängen von Jazzstücken mit sprechenden Titeln wie „White Heat“ oder „Rhythm Spasm“ vor Augen, wie die titelgebenden „Süßwassermörder“ einander fressen.
Ungleich weniger Unwohlsein erzeugen die Filme des vierten und letzten Kapitels, das den Titel „Erstaunliche Dynamiken“ trägt. Es beleuchtet Painlevés – eminent kinematografische – Faszination für Bewegung in allen Formen, sei’s jene von Flüssigkristallen oder Photonen, sei’s jene von Seespinnen oder Ringelwürmern, die zu Klängen von Chopin die feinen Glieder beziehungsweise die Tentakelkronen bewegen. „Les Danseuses de la mer“ (1960) und „Acera ou le bal des sorcières“ (1978) treiben die Parallele zum Tanz gar so weit, dass der Dokumentarfilm zum choreografischen Poem gerät. Die Heldin des letztgenannten Titels ist im Schlamm eine schleimige Schnecke – doch im Wasser schwingt sie sich dank einem Schleiermantel grazil auf und ab, eine pulsierende Schlängelbewegung, die Painlevé explizit in Beziehung zu Loïe Fullers Serpentinentanz setzt!
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