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Qualitätskino aus der Enklave

Der „film de banlieue“, ein genuin französisches Genre, hat sich seit seinen Anfängen vor vier Jahrzehnten spektakulär verfeinert und verästelt


„Banlieue“ ist ein französisches Wort, das auch im deutschsprachigen Raum weitherum bekannt ist. Freilich wird es in einem stark eingegrenzten Sinn verwendet: als Synonym von „Problemvorstadt“. Dabei unterscheidet Pierre Merlin in seiner Studie „Les Banlieues des villes françaises“ sieben Typen von Banlieues: Einst die Faubourgs (Siedlungsgebiete jenseits der alten Stadtmauern), die sogenannte Zone (von der weiter unten die Rede sein wird) und die Bidonvilles (Slums der Nachkriegszeit, in denen hauptsächlich Gastarbeiter wohnten); in jüngerer Zeit die Banlieue der Industriebauten und jene der Einfamilienhäuser („Pavillons“), die Villes nouvelles (Plan- oder Retortenstädte) sowie die sogenannten Cités. Letztere, in den Vororten größerer Städte gelegene Hochhausviertel, die soziale Probleme kumulieren, sind – auch in Frankreich – meist gemeint, wenn von „Banlieues“ die Rede ist. Doch auch Neuilly-sur-Seine, eine der reichsten Gemeinden des Landes, ist definitionsgemäß eine „ville de banlieue“ (Vorstadt) – Parisern ist sie so nah, dass sie sie im Scherz das einundzwanzigste Arrondissement der zwanzig Verwaltungskreise zählenden Hauptstadt nennen.


Typische Banlieue: die Cité Gagarine in Ivry-sur-Seine vor ihrem Abriss 2020 (Bild: PD)

Diesem restriktiven Begriffsverständnis folgt die in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kristallisierte Genrebezeichnung „film de banlieue“: Sie meint einen „film de cité“. Werke von Eric Rohmer etwa, die in eher problemfreien Villes nouvelles spielen, sind keine „films de banlieue“, wiewohl in Vorstädten angesiedelt. David-Alexandre Wagner, Autor einer Doktorarbeit zum Thema, definiert den Banlieue-Film als ein fiktionales Genre mit anfangs stark dokumentarischem Einschlag, das die aus einer gewissen (sozialen, legalen, sprachlichen…) Norm ausscherenden Interaktionen junger, marginalisierter Vertreter multiethnischer Gemeinschaften in den Hochhaussiedlungen von Problemvorstädten zeigt. Diese Cités sind geprägt von Armut, Arbeitslosigkeit und familiären Missständen wie Gewalt, Missbrauch und Fehlen der Vaterfigur; Ennui, Einsamkeit, Depression, Drogenabhängigkeit und alles zersetzende Kriminalität gehören zum Lebensalltag ihrer Bewohner.


Untypische Banlieue: Neuilly-sur-Seine mit dem Geschäftsviertel La Défense im Hintergrund (Bild: Mairie de Neuilly-sur-Seine)

Der „film de banlieue“ baut auf einer Tradition auf, die in die dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zurückreicht, mit Wurzeln in der Stummfilmzeit. Die entsprechenden Werke – keines von ihnen zählt zum Kanon der Filmkunst – haben die sogenannte Zone zum Handlungsort, das Niemandsland jenseits der 1845 vollendeten und zwischen 1919 und 1929 geschleiften Befestigungen um Paris. Ihre Namen sprechen oft von selbst: „L’Enfer des anges“ („Die Hölle der Engel“, letzteres meint Kinder), „Notre-Dame de la Mouise“ („Unsere Liebe Frau des Elends“), „La Rue sans nom“ („Die Straße ohne Name“), „Terrain vague“ („Brachland“).


Die ersten „films de banlieue“ übernehmen in den achtziger Jahren gern die Elends-Ästhetik und/oder den anklägerischen Gestus früherer Werke, die in der Zone spielen – überzeugen künstlerisch aber oft noch weniger als diese. Eine Ausnahme bildet „De Bruit et de fureur“ („Lärm und Wut“, 1988) von Jean-Claude Brisseau, ein Plattenbau-Märchen über die todbringende Freundschaft zwischen zwei Jugendlichen: einem Träumer und einem Zerstörer. Für seinerzeitige Verhältnisse schockierend gewaltsam, trägt das Werk etliche Züge späterer Banlieue-Filme. Doch macht „De Bruit et de fureur“ auch Anleihen beim Surrealismus und beim Western: ein Solitär, dessen verstörende Poesie bis heute fasziniert.


US-Trailer von „De Bruit et de fureur“

Im September 1995 französierte die Zeitschrift „Positif“ das durch die „Cahiers du cinéma“ kurz zuvor geprägte Kofferwort „banlieue-film“ in „film de banlieue“. Den Grundtyp des damals wo nicht geborenen, so zumindest getauften Genres verkörpert emblematisch Mathieu Kassovitz‘ Schocker „La Haine“, im Mai desselben Jahres in den Kinosälen angelaufen. „Hass“ treibt in binärem Schwarzweiß die Reibung zwischen drei Cité-Bewohnern und der Außenwelt – Journalisten auf „Banlieue-Safari“, Türsteher und Vernissage-Gäste in Paris, rauflustige Skinheads, vor allem jedoch übergriffige „Ordnungshüter“ – in die finale Explosion. Beginnend mit Archivbildern von Unruhen zu Bob Marleys Song „Burnin‘ and Lootin‘“ und endend mit Schüssen aus Polizeipistolen, inszeniert „La Haine“ zum Ticken einer Zeitbombe einen seinerzeit als elektrisierend empfundenen Countdown. Heute indes sind die Schwächen des Drehbuchs und das Hölzerne der Umsetzung schwerlich mehr zu übersehen.


Deutschsprachige DVD-Ausgabe von „La Haine“ (Bild: Amazon)

Die Thematik von Polizeigewalt und von (meist durch diese hervorgerufenen) Aufständen – in Frankreich spätestens seit der Erhebung des Lyoner Banlieue-Viertels Les Minguettes im „heißen“ Sommer 1981 ein scheinbar durch nichts und niemand zu durchbrechender Teufelskreis – bildet das Ausgangsmaterial fast aller Werke, die dem Grundtyp des „film de banlieue“ zugehören. „Ma 6-T va crack-er“ (Jean-François Richet, 1997) und „Athena“ (Romain Gavras, 2022) setzen so auf Hyperästhetisierung der Hypergewalt, hier im Stil eines Actionfilms, dort eines Musikclips. „Wesh wesh, qu’est ce qui se passe ?“ (Rabah Ameur-Zaïmèche, 2001) und „Les Misérables“ („Die Wütenden – Les Misérables“, Ladj Ly, 2019) suchen demgegenüber den soziopolitischen Kontext von Unruhen zu vermitteln, verlieren ob des Dokumentarischen aber das Künstlerische aus den Augen.


Ein Meisterwerk mag man keinen dieser Streifen nennen. Wie Dutzende von anderen betreiben sie eine Art von Erpressung durch Lebensechtheit: Sie postulieren, der Wert eines Films gründe entweder auf der Wirklichkeitstreue der Darstellung realer Missstände – oder aber auf der Emphase, ja grimmigen Rage, mit der der Regisseur zu Werke geht.


Viel Feuer um nichts: das Kinoplakat von Romain Gavras‘ „Athena“ (Bild: PD)

Ungleich fesselnder ist eine zweite Spielart des Banlieue-Films, die um die Jahrtausendwende entsteht. In „Petits Frères“ (1999) stellt Jacques Doillon dem Quartett der titelgebenden kleinen Brüder eine willensstarke kleine Schwester gegenüber. Diese bricht, um ihre entführte Kampfhündin wiederzufinden, etliche Verhaltenscodes, die Banlieue-Adoleszentinnen aufgezwungen werden – sie stellt in fremden Cités Nachforschungen an, erwirbt eine Feuerwaffe, raubt gar zwei Erwachsene aus. Noch origineller lässt Abdellatif Kechiche in „L’Esquive“ („Nicht ja, nicht nein“, 2004) vor dem Hintergrund von Schultheaterproben ein aufgewecktes junges Ding die Liebeserklärung einer männlichen Molluske in der Schwebe prolongierter Nichtbeantwortung halten (der Filmtitel meint ein Ausweichmanöver) – eine Situation, die im Kodex der Banlieue-Jugendlichen nicht vorgesehen ist und eine Kette von Komplikationen hervorruft.


Schule der Liebe, frei nach Marivaux: „L’Esquive“ von Abdellatif Kechiche lancierte die fabelhaft spritzige Sara Forestier. (Bild: ?)

Ums Lernen, freilich nicht der Liebesdinge, sondern von Berufskompetenzen, geht es auch in „Divines“ von Houda Benyamina (2016). Ein dickköpfige Halbwüchsige rebelliert gegen die ihr zugewiesene Laufbahn als Empfangsdame. Von der Anheuerung durch eine charismatische Bandenführerin verspricht sie sich „Money, Money, Money“. Mit einem Eifer und einer Disziplin, die sie in der Schule hat missen lassen, lernt sie Scooter fahren, Schläge einstecken, Gangsterbosse verführen – allesamt Qualifikationen, die das Verbrecherhandwerk erheischt. Das Unternehmen endet, wie zu erwarten, böse – wohingegen der Schwarm der kleinen Kriminellen, der als Amateurtänzer bei einem Choreographen ähnlich hart in die Lehre geht wie sie bei der Bandenchefin, am Schluss die Hauptrolle in einer professionellen Produktion erringt. Verbrechen zahlt sich nicht aus, ehrliche Arbeit schon.


„Schulaussteigerin schlägt Gangsterlaufbahn ein“ ist auch das Thema des nächsten Films unserer Auswahl. Gleichfalls durch eine Frau gedreht, aber noch gewagter und gelungener als „Divines“, bildet „Bande de filles“ (2014) von Céline Sciamma ein Juwel von einem Banlieue-Film. Geschmeidig, leuchtend und sinnlich, fasst „Mädchenbande“ die Verwandlung eines gefügigen schwarzen Backfischs in eine selbstbestimmte blonde Raubkatze in Szenen von hypnotischer Schönheit und lebenspraller Vitalität.


Harte Schule: Dounia (Oulaya Amamra, rechts) geht bei der Bandenführerin Rebecca (Jisca Kalvanda) in die Lehre – Filmstill aus „Divines“. (Bild: PD)

Nicht zuletzt offenbart diese zweite Kategorie von Banlieue-Film, welch eine Schatzkiste an (namentlich weiblichen) Schauspieltalenten Frankreichs Immigranten zweiter und dritter Generationen bilden. Zwei von ihnen seien hier namentlich genannt, stellvertretend für alle anderen: Oulaya Amamra und Karidja Touré, die sublim-sanguinischen Hauptdarstellerinnen von „Divines“ respektive „Bande de filles“. Im Bereich des Kinos bereichert die Einwanderung das Land unschätzbar.


Trailer von „Bande de filles“

Eine letzte Gattung des „film de banlieue“ ist noch jüngeren Datums. Sie nimmt die sozioökonomischen Rahmenbedingungen als gegeben hin, das ethnische Potpourri, die Banlieue-Sprache (für die heute kein Franzose mehr ein Wörterbuch braucht, wie zur Zeit von „La Haine“). Und öffnet das Genre in Richtung Horror, Fantasy, Science-Fiction. „La Gravité“ von Cédric Ido (2023) schildert so den Überlebenskampf dreier junger Männer in einer Hochhaussiedlung, die vor dem Hintergrund einer unheilvollen Planetenkonstellation durch jugendliche Dealer-Samurais beherrscht wird. „Gagarine“ von Fanny Liatard und Jérémy Trouilh (2020) spielt in der gleichnamigen Cité der Pariser Vorstadt Ivry-sur-Seine, die abgerissen werden soll. Ein Jugendlicher, durch den Kosmonauten fasziniert, der die Großwohnsiedlung einst eingeweiht hatte, richtet in einem zur Sprengung bestimmten Hochhaus eine Überlebenskapsel ein. „Grand Paris“ von Martin Jauvat (2023) endlich, frisch und flaumleicht wie ein Meerwellenschäumchen, begleitet zwei Cité-Bewohner auf ihrer Odyssee durch die Île-de-France, nachdem ihnen bei einer dubiosen Kurierfahrt der Retour-Zug gestrichen wurde. Unterwegs finden sie ein mysteriöses Artefakt aus Ägypten, Atlantis oder dem Weltall; ihre pikareske Irrfahrt von Banlieue zu Banlieue führt sie unter vielem mehr zu Fastfood-Dealern, Verschwörungstheoretikern – und zu den Erbauern fliegender Untertassen!


Gestrandet irgendwo zwischen Chelles-Gournay und La Hacquinière, zwischen Nordost und Südwest, Himmel und Erde: Leslie (Mahamadou Sangaré) und Renard (Martin Jauvat) bei ihrer Odyssee durch das „Grand Paris“ (Bild: PD)

Fantasievoll, wiewohl nicht immer frei von Ungeschick, werden diese drei Streifen noch übertroffen durch „La Tour“ (Guillaume Nicloux, 2022). In dieser düsteren Dystopie sperrt todbringende Finsternis hundertfünfzig Banlieue-Bewohner in ihrem Wohnturm ein. Mangels Verbindung zur (ausgelöschten?) Außenwelt müssen sie autark überleben. Drei ethnische Gruppen bilden sich. Nach fünf Monaten vernichtet eine Strafexpedition der „Weißen“ den Clan der „Araber“, die sich einer Hundeentführung mit Todesfolge des Besitzers schuldig gemacht haben. Nach zwei Jahren florieren Paranoia und Hautkrankheiten, Aberglaube und Kannibalismus. Nach fünf Jahren steigt die Finsternis bis zum vierten Stock auf. Elliptisch und herb, flackernd beleuchtet wie ein Albtraum von Caravaggio in einem Kerker von Piranesi, bildet „La Tour“ eine soziale Extremfallstudie von gnadenloser Grausamkeit.


Trailer von „La Tour“


Im letzten Werk unserer Blütenlese endlich kontaminiert die Welt der Imagination jene der Realität. „Swagger“ von Olivier Babinet (2016) kreuzt das Genre des Dokumentarfilms mit jenen des Musik- und Science-Fiction-Films. Elf Banlieue-Kinder und -Jugendliche beantworten in ihrem leeren Schulgebäude Fragen zu ihren Träumen und Ängsten, zu Kriminalität, Erziehung und Liebe, zu ihrem Verhältnis zur Religion oder zu „Stammfranzosen“ („Français-Français“). Das liest sich auf dem Papier eher betulich, doch überrascht und überwältigt „Swagger“ mit allerliebsten Hoppelhäschen und futuristischen Polizeidronen, mit Starauftritten im Hollywoodstil und Revuenummern in Markthallen. Vor allem frappieren die elf mit ihrer je ausgeprägten Persönlichkeit, ihren ureigenen Schrullen, Ideen und Leidenschaften. Der eine paradiert mit Pelzmantel und Fliege durch den Beton-Dschungel, die andere bekommt vor lauter Schüchternheit nicht einmal den eigenen Namen heraus, eine Dritte fürchtet, Barbie und Micky Maus könnten kommen, um sie und andere Kinder umzubringen. Das enigmatische Lächeln des Jugendlichen Abou Fofana, sein expressiv-schelmisches Mienenspiel, seine raue Stimme, wenn er, befangen und bedacht, über Kolonialismus und Sklaverei sinniert, wird man so schnell nicht vergessen.


Trailer von „Swagger“

Von den eher grobschlächtigen Pflichtübungen der ersten „films de banlieue“ bis zu den raffinierten Küren in „L’Esquive“, „Bande de filles“, „La Tour“ oder „Swagger“ hat sich das Genre spektakulär verfeinert und verästelt. Es ist nuancierter, fantasiereicher, auch lebensbejahender geworden. Die drei ersten Generationen von Banlieue-Filmen haben wir hier umrissen – auf die nächste darf man gespannt sein.

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