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Notre-Dame, zeitgenössisch

Ausstellungen in Paris und Troyes illustrieren, wie die gotische Kathedrale im 17., 18. und 19. Jahrhundert mit Gemälden, Kirchenfenstern und anderen Werken dem jeweiligem Zeitgeschmack angepasst wurde. Heute geht das nicht mehr, trotz dahingehender Vorstöße von Frankreichs Präsident.


Zeitgenössische Eingriffe in historischen Sakralbauten? Die Streitfrage ist älter, als es scheinen mag. Gleich vielen Monumenten ähnlicher Dimensionen und Ambitionen ist Notre-Dame de Paris eine (fast) permanente Baustelle. Jedes Jahrhundert nimmt an der Kathedrale Ergänzungen und Retuschen vor: Diese sind meist der Ästhetik des Moments verpflichtet, also per Definition zum jeweiligen Zeitpunkt „zeitgenössisch“. Wie das Innere im Mittelalter aussah, wissen wir nur in Umrissen – zu viele Veränderungen, zu wenige Dokumente. Nach den Religionskriegen war ab dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts wieder Geld in den Kassen des Königreichs, um die hauptstädtischen Kirchen zu verschönern. Louis XIII. und seine Gattin, Anna von Österreich, weihten die Kathedrale der Muttergottes und gelobten den Bau eines neuen Hochaltars. Doch erst ihr zum Sonnenkönig herangewachsener Erstgeborener erfüllte das Versprechen ab 1699 und ließ seinen Premier architecte Robert de Cotte den Chor tiefgreifend umgestalten.


Die Gilde der Goldschmiede wandelte ihrerseits eine ins Jahr 1451 zurückreichende Tradition jährlicher Opfergaben zu Ehren namentlich Mariä 1630 in die Stiftung eines über dreieinhalb Meter hohen Gemäldes um. Da dieses jeweils im Mai präsentiert wurde, trug es den Namen „may“. Bis 1707 entstanden so 76 Mays, die im Lauf der folgenden Jahrhunderte in ganz Frankreich und sogar bis nach Wiltshire verstreut wurden. Von den 54 erhaltenen Tableaus befanden sich nur noch dreizehn in Notre-Dame, als am 15. April 2019 der Großbrand ausbrach. Unbeschädigt abgehängt, konnten sie dank dem Spenden-Manna restauriert werden und waren vor kurzem Hauptgegenstand einer Schau des Mobilier national. Dieses öffentliche Etablissement verwaltet das Mobiliar der offiziellen Gebäude der Republik, vom Élysée über Ministerien bis hin zu Botschaften, und richtet in der Pariser Galerie des Gobelins seit 2007 auch Ausstellungen aus.


Ansicht des Untersaals der Ausstellung „Grands décors restaurés de Notre-Dame de Paris“, die bis unlängst im Pariser Mobilier national zu sehen war. (Bild: zit.)

In dem langgezogenen, fünfeinhalb Meter hohen Untersaal sah man die Mays wie noch nie (und wie vermutlich nie wieder): ideal beleuchtet, aus frontaler Nähe und in jungfräulicher Farbenfrische. Stilistisch und qualitativ sind diese Arbeiten, die meist Szenen aus der Apostelgeschichte des Lukas thematisieren, recht disparat. Glanzstücke bilden Laurent de La Hyres barock-feurige „Bekehrung des Paulus“, Sébastien Bourdons dynamisch-diagonale „Kreuzigung Petri“ und zwei Martyrien von Charles Le Brun, die den Adrenalinpegel hochschießen lassen. Der May des wenig bekannten Gabriel Blanchard verdient schon seines Titels wegen zitiert zu werden: „Den heiligen Andreas durchzuckt beim Anblick seiner Marter Freude“. Im Obersaal wartete die Schau mit Gemälden auf, die anders als die Mays seinerzeit nicht im Schiff, sondern anderswo in der Kathedrale hingen – darunter zwei emotionsgeladene Tableaus von Lubin Baugin (der einst mit nicht weniger als neunzehn Tableaus in Notre-Dame vertreten war!) und das religiöse Hauptwerk der Brüder Le Nain, die zwischen Caravaggios Chiaroscuro und flämischer Genremalerei vermittelnde „Geburt der Jungfrau“. Dazu Arbeiten, die erst nach der Revolution in die Kathedrale gelangten, wie jene der Bologneser Guido Reni und Guercino. Nicht zu vergessen die knapp 90 Quadratmeter große Oberhälfte des um 1830 gewebten, ebenfalls jüngst restaurierten Chorteppichs von Notre-Dame. Er zeigt in der Vogelschau ein gotisches Kirchenfenster – was aus der Froschperspektive natürlich nicht zu erkennen ist.


Laurent de La Hyre: Die Bekehrung des Paulus, 1637 (Bild: DRAC Île-de-France)
Sébastien Bourdon: Die Kreuzigung Petri, 1643 (Bild: DRAC Île-de-France)
Charles Le Brun: Das Martyrium des hl. Johannes, 1647 (Bild: DRAC Île-de-France)
Lubin Baugin: Das Martyrium des hl. Bartholomäus, zwischen 1645 und 1655 (Bild: DRAC Île-de-France)
Louis und Matthieu Le Nain: Die Geburt der Jungfrau, 1640 (Bild: DRAC Île-de-France)

Zur Revolutionszeit wurde die Kathedrale 1793 geleert, ab 1802 durch Napoleon – der sich mit Rom gutzustellen suchte – wieder behelfsmäßig möbliert, bevor Eugène Viollet-le-Duc ab 1845 dann erneut das Mobiliar entfernte. Der bis heute umstrittene Architekt wollte Notre-Dame ihr „mittelalterliches Urantlitz“ zurückgeben und ersetzte zu diesem Zweck die Gemälde des 17. und 18. Jahrhunderts durch erzählende beziehungsweise ornamentale Wandmalereien. Auch vor „Nachschöpfungen“ im weitesten Sinne schreckte er nicht zurück: Der (beim Großbrand zusammengestürzte) massive Vierungsturm, den Viollet-le-Duc anstelle des um 1790 abmontierten ursprünglichen Glockenturms errichtete, sah mitnichten so aus wie eine Hervorbringung der 1250er Jahre. Was diese und viele weitere Eingriffe beseelte, war die Philosophie des frühesten „Denkmalschutzes“ in Frankreich ab der Schaffung der entsprechenden Kommission 1837: Es ging weniger darum, das Bestehende zu bewahren, als einen Idealzustand nachzuschaffen – auch wenn es diesen nie gegeben hatte.


Die Mays hingen einst namentlich an den Pfeilern des Hauptschiffs. (Bild: Mobilier national)

Doch abermals schlug das Pendel um. Unter der Ägide des inspecteur des Monuments historiques Pierre-Marie Auzas kehrten ab 1947 Gemälde – und namentlich dreizehn Mays – zurück, derweil Viollet-le-Ducs Wandmalereien beseitigt wurden. Ziel war nunmehr, einem – ebenfalls nicht verlässlich dokumentierten – „vorrevolutionären Idealzustand“ nahezukommen. Für die Hinzufügungen des 19. Jahrhunderts, von den Wasserspeiern bis zum Kirchenschatz, hatten Auzas und seine Nachfolger bis unlängst nicht viel übrig. Auch aus diesem Grund zeitigte nach dem Großbrand Emmanuel Macrons Einfall, anstelle des zusammengestürzten Vierungsturms einen neuen, dezidiert zeitgenössischen errichten zu lassen, ein Strohfeuer der uninformierten Aufgeregtheit. Dieses hätte nie brennen sollen: Bindende denkmalpflegerische Texte stipulieren, dass bei Restaurationen der jeweils letzte Zustand wiederhergestellt werden muss, sofern die Dokumentationslage dies erlaubt. Was bei Notre-Dame, einem fast bis auf den letzten Nagel untersuchten Bauwerk, klar der Fall ist.


Nachdem diese Idee fallengelassen worden war, ist der Präsident letzten Dezember mit einer neuen Eingebung vorgeprescht: Jetzt will er Viollet-le-Ducs Kirchenfenster in sechs Kapellen durch heutige Kreationen ersetzt sehen. Jene hatte der Architekt als dekorative Grisaillen (das heißt grau in grau) gestaltet, derweil er den Fenstern des Chors und Querschiffs einen bunten, erzählenden Charakter verlieh. Schon allein aus Achtung für Viollet-le-Ducs Gesamtkonzept, das schlüssige räumliche Hierarchien schafft, muss Macrons Projekt gestoppt werden. Eine Petition, die bereits über 140 000 Unterschriften vereint hat, betont, wie unsinnig es wäre, denkmalgeschützte, frisch restaurierte Kirchenfenster zugunsten von Neuschöpfungen abzumontieren – um Erstere dann direkt neben Notre-Dame in dem Kathedralenmuseum auszustellen, dessen Gründung Macron im selben Atemzug angekündigt hat!


Modelle des neuen Mobiliars (Bild: Mobilier national, Faustine Letellier)

Ein ähnliches Vorhaben gab es übrigens schon einmal. 1935 schlugen zwölf Glasermeister vor, Viollet-le-Ducs als trist und timid erachtete Grisaille-Fenster in gleich einem Dutzend Kapellen durch eigene Werke zu ersetzen. Genauer: durch je zwei Lanzetten, von einer Rose überhöht. Ende 1938 wurden die zwölf fertigen Neuschöpfungen in der Kathedrale präsentiert, doch der Krieg vereitelte ihre definitive Installation. Eine Ausstellung in der Cité du Vitrail in Troyes zeigt zurzeit – leider separat, nicht in Dreiergruppen – drei dieser Rosen und acht Lanzetten: Nicht sonderlich gewagte figurative Kreationen zwischen Fauvismus und Kubismus. Zeitungsartikel beleuchten den seinerzeitigen „Kirchenfensterstreit“ zwischen Gegnern der „ästhetischen Häresien“, die den geweihten Ort angeblich profanierten, und Befürwortern bunter, „lebendiger Kathedralen“. Einige Kritiker waren schlicht borniert, andere trugen legitime künstlerische Bedenken vor, Dritte argumentierten, neue Kirchenfenster gehörten in neue Kirchen.


Ansicht der Ausstellung „Notre-Dame de Paris. La querelle des vitraux“ in der Cité du Vitrail in Troyes (Bild: Département de l’Aube – C. Péchiné)

Heute werden Kämpfe zum Thema „zeitgenössische Eingriffe in historischen Sakralbauten“ nicht mehr auf dem Feld der Religion ausgetragen, nicht einmal primär auf jenem der Ästhetik. Sondern auf dem Terrain des Denkmalschutzes: Verschwundene historische Elemente, die nicht oder nur spärlich dokumentiert sind, dürfen, so die Doxa, sehr wohl durch zeitgenössische ersetzt werden. Nicht jedoch bestens bekannte Kreationen (wie der Vierungsturm) oder gar solche, die noch existieren (wie besagte Grisaille-Fenster). Das war zur Zeit von Louis XIV, Viollet-le-Duc oder Pierre-Marie Auzas anders – und mag sich in einer Zukunft, die wir Mühe haben uns vorzustellen, auch wieder ändern.


André Rinuy: Rose du Credo, 1937 (Bild: Atelier Belisama / Élisabeth de Bourleuf)

 

 

Grands décors restaurés de Notre-Dame de Paris (Sammelband). Silvana Editoriale / Mobilier national, Mailand / Paris 2024. 112 S., Euro 15.-.

Notre-Dame de Paris. La querelle des vitraux. Bis 5. Januar 2025 in der Cité du Vitrail, Troyes. Kein Katalog.
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