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Mit ätzender Feder wider den Verfall

marczitzmann
Schwarz wie Goya: vor 350 Jahren wurde Louis de Rouvroy, Duc de Saint-Simon geboren, Frankreichs gewaltigster Memoirenschreiber


Er war der Größte. Ein Beispiel unter Hunderten: „Der Abbé Dubois war ein mageres Männchen, spitzig, verschlagen, mit blonder Perücke, einem Mardergesicht und einer vergeistigten Physiognomie, ganz das, was man in schlechtem Französisch einen Würgfalken nennt – es lässt sich nicht anders ausdrücken. Alle Laster kämpften in ihm um die Vorherrschaft, lautstark und beständig. Knauserei, Ausschweifung und Ehrgeiz waren seine Götter; Arglist, Kriecherei und Speichelleckerei seine Mittel; völlige Gottlosigkeit bildete seine Seelenruhe, und die Ansicht, dass Redlichkeit und Ehrlichkeit bloß Hirngespinste sind, mit denen man sich schmückt und die bei niemandem Realität haben, sein Prinzip, demzufolge ihm jedes Mittel recht war. Er tat sich mit niedrigen Intrigen hervor, er lebte davon, er konnte nicht darauf verzichten, aber immer mit einem Ziel vor Augen, auf das alle seine Züge gerichtet waren, mit einer Geduld, der einzig der Erfolg ein Ende setzte, oder der wiederholte Beweis, dass nichts zu machen war – es sei denn, seine Wühlarbeit in finsteren Gründen öffnete ihm einen neuen Stollen. So verbrachte er sein Leben mit Unterminieren.“


Dies eine Beschreibung, die der Duc de Saint-Simon einem seiner Erzfeinde angedeihen ließ, dem Kardinal und Premier ministre Guillaume Dubois. Tausenden von Zeitgenossen verlieh der Verfasser monumentaler Memoiren gleich dem geflügelten Marder ein unnachahmliches Profil – ja, er rettete viele von ihnen mit seiner ätzenden Feder, die zeitbeständige, hochindividualisierte literarische Radierungen hervorbrachte, vor der Vergessenheit. Wer Saint-Simon gelesen hat, wird nie mehr Monsieur, Monsieur le Grand, Monsieur le Premier, Monsieur le Prince, Monsieur le Duc und Monseigneur miteinander verwechseln.


Saint-Simon im Jahr 1728 – Kopie nach einem Original von Pierre Cavin (Bild: BnF)
Saint-Simon im Jahr 1728 – Kopie nach einem Original von Pierre Cavin (Bild: BnF)

Geboren wurde Louis de Rouvroy, Duc de Saint-Simon am 16. Januar 1675 als einziger Sohn des 69-jährigen ersten Inhabers des 1635 geschaffenen Adelstitels „Herzog von Saint-Simon“. Seine Taufpaten waren Louis XIV und dessen erste Gattin, was von der Wertschätzung zeugt, die Saint-Simons Vater im Dienst von Louis XIII erworben hatte. Der junge Herzog genoss eine hervorragende Ausbildung und absolvierte die üblichen ersten Etappen des Cursus honorum: offizielle Vorstellung beim König mit sechzehn, Militärkampagne in Flandern, Heirat einer Gleichrangigen (Louis XIV unterzeichnete den Ehevertrag und lud die Jungvermählten bald darauf in die Frühlingsfrische nach Marly ein). Doch 1702 verließ der Herzog, enttäuscht über eine ausgebliebene Beförderung, die Armee. Er fiel – erwartungsgemäß – in milde Ungnade. Eine publik gewordene Wette auf den Fall der durch Feinde belagerten Stadt Lille verstärkte später den königlichen Groll. 1710 kam es zur Versöhnung, die Madame de Saint-Simons Ernennung zur Ehrendame einer Tochter des Königs besiegelte.


Doch erst nach dem Tod von Louis XIV 1715 blühte die Karriere des Herzogs auf. Der Regent für den minderjährigen Louis XV, Philippe d’Orléans, war seit der Kindheit – mit Perioden der Entfernung, aber nie der völligen Entfremdung – Saint-Simons enger Freund. Der Herzog wurde in einen zwölfköpfigen Regentschaftsrat ernannt, er hatte Einfluss und Eintritte, 1718 sah er gar seinen langjährigen Wunsch einer Herabsetzung des Pariser Parlaments sowie der Bastarde des Sonnenkönigs erfüllt. Doch in jenem Jahr begann auch Dubois‘ Stern zu steigen, bald schon hielt der einstige Präzeptor des Regenten alle Macht in den Händen. Indes starb der geflügelte Marder nur ein Jahr nach seiner Ernennung zum Premier ministre 1723, bald gefolgt durch Philippe d’Orléans.  Auf sanften Druck von Dubois‘ Nachfolger hin verließ Saint-Simon den Hof. Zwar würde er der „Politik“ nie ganz entsagen, aber die drei letzten Jahrzehnte seines Lebens galten großteils seinem monumentalen Memoirenwerk. Unter dessen 2756. handgeschriebene Seite setzte der Herzog 1749 den Schlusspunkt; kurz vor seinem Tod am 2. März 1755 verlor er, fast ruiniert, den letzten, kinderlosen Sohn: Das Geschlecht der Saint-Simons erlosch.


Die „Mémoires“ freilich machten den Namen unsterblich. Saint-Simon hatte mit den Vorarbeiten ab etwa 1730 begonnen: Er annotierte Kopien des Journals eines Höflings namens Dangeau mit (oft zornigen) Bemerkungen und führte sich die (für Nachgeborene ungenießbaren) diplomatischen Memoiren von Torcy zu Gemüte, einem einstigen Außenminister des Sonnenkönigs. 1739 begann der Herzog mit der eigentlichen Schreibarbeit; doch reichte das Projekt ins Jahr 1690 zurück, als der Fünfzehnjährige seine Eindrücke von der Trauerfeier einer Prinzessin auf Papier gebettet hatte. In der Referenzausgabe von Yves Coirault in der „Bibliothèque de la Pléiade“ zählen die „Mémoires“ 7260 eng beschriebene Seiten und sind damit zweieinhalbmal so lang wie Prousts „Recherche“. Coirault war der Letzte, der das Manuskript Wort für Wort entziffern konnte – heute sind in der Bibliothèque nationale nur noch Mikrofilmaufnahmen einsehbar.


Hyacinthe Rigaud: Saint-Simon 1692 (Bild: Wikipedia)
Hyacinthe Rigaud: Saint-Simon 1692 (Bild: Wikipedia)

Welcher Kategorie mag man das Werk zuordnen? Die „Mémoires“ sind keine Autobiografie: Der Autor gewährt darin kaum Einblick in sein Privat- und Innenleben, Familienmitglieder werden nur am Rande erwähnt, physische wie psychische Selbstporträts fehlen ganz. Dennoch konstruiert der Text ein Bild seines Verfassers, wenngleich auf dreifachem Umweg: Via das Ethos, das der Autor implizit durch seine Art des Erzählens entwirft; über die Auftritte des Herzogs als Protagonist vieler Begebnisse; endlich im Reflex der Kommentare, die namentlich Louis XIV und Philippe d’Orléans über besagten Handlungsträger machen. Die drei Bilder kongruieren völlig, Autor, Ich-Erzähler und erzählter Handlungsträger skizzieren Hand in Hand das Profil eines zutiefst integren, standfesten und auch couragierten „Helden“, der unangreifbar in der Moral ist, versiert in der „Politik“ und treu in der Freundschaft.


Strukturiert sind die klar für eine postume Publikation bestimmten „Mémoires“ nach Jahren, von 1691 bis 1723. Manche Jahrgänge zählen bloß zehn Seiten, andere (namentlich 1715 und 1718) erreichen Romanlänge. Die einzelnen Einträge folgen unverbunden aufeinander, wie seinerzeit üblich durch „Randtitel“ situiert. Einige von diesen sind ellenlang („Sonnenfinsternis. Jahresende des Duc de Berry. Der König heißt die Duchesse de Berry, vor der Zeit die große Trauerkleidung ablegen, und führt sie im Salon von Marly zum Spiel; sie erwirkt vier Damen als Gefolge“), andere lakonisch: „Lotterie“. Diplomatische Berichte, über Hunderte von Seiten hinweg abgekupfert bei Torcy, Beschreibungen von Zeremoniellen, genealogische Abschweifungen bilden für heutige Leser lange Wüstenstrecken, für deren mühsame Durchquerung drei Sorten von Einträgen entlohnen.


Erstens Anekdoten, die Saint-Simon nicht nur aus erster Hand besitzt („vérité“ ist der zentrale Begriff seines Memoirenschreiber-Ethos‘), sondern auch mit verbaler Verve und mit Sinn fürs demaskierende Detail erzählt. Etwa jene vom Herzog von Alba, der, kerngesund, lange Jahre im Bett auf der rechten Seite liegend verbrachte, weil er sich von diesem „Gelübde“ die Rückkehr der Geliebten erhoffte. Zweitens in indirekter Rede wiedergegebene Gespräche, die die Konversationskultur der Hofgesellschaft restituieren, eine Mischung aus scheelem Klatsch, galantem Geplänkel, mit harten Bandagen geführten Wortkämpfen und Bonmots. Saint-Simon bewundert die mots d‘esprit der scharfzüngigen Maréchale d’Estrées, des zynischen Premier président Harlay („bedauernswert, dass man seine gesammelten Aussprüche nicht zu Harleana gebündelt hat“) und des „tollwütigen“ Comte de Gramont, dessen „Witz in jedem das Schwache, das Schlechte, das Lachhafte offenlegte und es in zwei irreparablen, unauslöschlichen Zungenschlägen zeichnete“.


Drittens und endlich die berühmten Porträts, die – wiewohl bloß 5,6 Prozent des Gesamttexts ausmachend (ein Saint-Simonologe hat es ausgerechnet) – den Kern aller Anthologien bilden. Manche von ihnen sind bloß drei Zeilen kurz, andere erstrecken sich über Dutzende von Seiten. Meist zum Tod der betreffenden Person verfasst, mitunter auch anlässlich einer Heirat oder Ernennung, fördern Saint-Simons Porträts stets etwas Urspezifisches, in den Tiefen der jeweiligen Individualität Vergrabenes zutage. Hauptfiguren wie der zugleich verehrte und verachtete Sonnenkönig oder dessen ältester Enkel Louis de Bourgogne, bis zu seinem frühen Tod 1712 der große Hoffnungsträger des restaurativ-reformistischen Herzogs, sehen sich je mit mehreren Porträts bedacht.


Im Fall von Philippe d’Orléans sind es gar deren siebenundzwanzig (!), was den Freund aus Kindertagen zum kaum heimlichen Mittelpunkt der Memoiren macht. Ein Dostojewskischer Prinz, von den Göttern geliebt, aber auch geschlagen: Aus existenziellem Ennui wurde der in vielen – auch künstlerischen – Dingen Hochbegabte zum Lüstling und Teufelsbeschwörer; bald sah er sich des Inzests und der Giftmischerei beschuldigt; die Regentschaft war ein langer Leidensweg unter der Geißel des ungeliebten, aber gefürchteten Dubois; nicht einmal fünfzigjährig starb der durch seinen Lebenswandel Zerrüttete an Apoplexie. Saint-Simon war sein bester Freund: Er suchte ihn regelmäßig auf den rechten Weg zu bringen, hielt ihm aber auch 1708 und 1712 als Einziger die Treue, als Philippe d‘Orléans in Versailles geächtet war und die Höflinge ihn buchstäblich flohen. Nicht der Liebe, noch weniger der Macht, sondern vielmehr der Freundschaft setzen die „Mémoires“ ein Denkmal, das noch heute zu Tränen rührt. Saint-Simons vielzitierte Obsessionen für Rangfragen, für Probleme bezüglich Vortritt, Anrede, Sitzmobiliar und des Tragens oder Abnehmens von Kopfbedeckungen erscheinen demgegenüber nebensächlich.


Hyacinthe Rigaud: Saint-Simon 1685 (Bild: Wikipedia)
Hyacinthe Rigaud: Saint-Simon 1685 (Bild: Wikipedia)

Was macht die Besonderheit dieser „Mémoires“ aus, noch vor Chateaubriands „Mémoires d’outre-tombe“ die gewaltigsten der französischen Literatur? Laut Kritikern sind es Blick und Stil. Der Blick von Saint-Simon ist genährt durch eine lange, tiefe Wut auf die Dekadenz des Zeitalters nach der goldenen Ära von Louis XIII, für den Herzog der beste aller Herrscher. Alles – und namentlich die gesellschaftlichen (und im engeren Sinne hierarchischen) Beziehungen zwischen den Menschen – betrachtet der Memoirenschreiber als denaturiert, pervertiert, ja von Fäulnis befallen. Sein Blick ist der eines Inquisitors, der Zeichen von Verrohung und Verrottung mit Insistenz sucht, weil er weiß, dass er sie finden wird. Saint-Simons Vermessung der Gesichter der echt oder gespielt Trauernden am Totenbett des Thronfolgers 1711 mit dem Laserstrahl seines Blickes ist von Proustscher Unerbittlichkeit. Etliche seiner Zeitgenossen sieht der Herzog gar wie Tiere: Pussort hat die „Miene eines bösen Katers“, Saumery „das Naturell einer Ratte, die das einsturzgefährdete Haus verlässt“, der verhasste Premier président Harlay „die Augen eines Geiers, die Gegenstände zu verschlingen und Wehrmauern zu durchbohren scheinen“.


1830 erstmals vollständig gedruckt, wurden die „Mémoires“ durch Sainte-Beuve, die Goncourts, vor allem Proust gefeiert, aber auch durch Historiker wie Adolphe Chéruel und Arthur de Boislisle, verantwortlich für die zweite beziehungsweise dritte Gesamtausgabe, auf ihren Wahrheitsgehalt hin abgeklopft. Näher an unserer Zeit gründete Norbert Elias seine Studie „Die höfische Gesellschaft“ auf Saint-Simons Opus magnissimum, während Yves Coirault in „L’Optique de Saint-Simon“ den an Rembrandt und mehr noch an Goya gemahnenden Künstlerblick herausarbeitete. Endlich befassten sich Linguisten in der Nachfolge von Leo Spitzer und Erich Auerbach mit der Sprache des Herzogs. Archaismen, verdrehte Syntax, stilistische Vielfalt (die platten Schilderungen militärischer Ereignisse differieren markant von den reliefreichen Porträts): Saint-Simon pflegte laut eigenem Eingeständnis einen unordentlichen „style à la diable, geschaffen, um den phlegmatischsten Grammatikern Nervenkrämpfe zu bereiten“ (so ein Gelehrter des 19. Jahrhunderts) – weil er als aristokratischer Amateur eben gerade nicht die polierte Prosa eines bürgerlichen Berufsschriftstellers pflegen wollte. Doch hätte er besser geschrieben, befand ein Kommentator ebenso pointiert wie triftig, wäre er ein schlechterer Autor.

 



Verwendete Literatur:

Saint-Simon: Mémoires (Gesamtausgabe in 8 Bänden, Hrg.: Yves Coirault). Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1983-88. Die Referenzausgabe.

Saint-Simon: Mémoires (Auswahl in 2 Bänden, Hrg.: Yves Coirault). Folio classique, Paris 1990 und 2019. Ausgepickte Rosinen für Leser.innen, die bei ihrer Reise durch das Werk die „Wüstenstrecken“ auslassen möchten.

Tout Saint-Simon (Hrg.: Marie-Paule de Weerdt-Pilorge). Bouquins éditions, Paris 2021. 1152 S., Euro 33.-. In 245 Einträgen von A wie „Additions au Journal de Dangeau“ bis V wie „Voltaire et Saint-Simon“ beleuchten zwanzig Spezialisten alle Facetten von Saint-Simons Leben und Werk. Neben den Hauptpersonen und -themen der Memoiren werden das Leben des Herzogs, sein Schreibstil, seine kritische Rezeption, seine übrigen Schriften und viele weitere Themen fesselnd behandelt. Zahlreiche oft mehrseitige Zitate machen den Band auch zu einem Lesebuch.

Yves Coirault: L’Optique de Saint-Simon. Armand Colin, Paris 1965. 720 S., vergriffen. Eine epochale Studie, die den Fokus auf das Fremde, Verformte, ja Monströse in Saint-Simons Werk richtet. Die Memoiren als Vorläufer von Rimbauds „Une Saison en enfer“.

Album Saint-Simon (Hrg.: Georges Poisson). Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1969. 342 Seiten, nicht käuflich. Einer der begehrten Bildbände, die die Bibliothèque de la Pléiade alljährlich im Mai den Käufern von mindestens drei Titeln der Reihe schenkt. Noch vor der – nicht ganz so kurzen – Kurzbiografie besticht hier das reiche Bildmaterial.
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