Die Louvre-Ausstellung „Les Choses“ ist selbst eine seltsame Chose
Die Erfahrung zeigt: Kuratoren ist nicht über den Weg zu trauen, die beim Umreißen des Gegenstands ihrer Ausstellung von Gedanke zu Gedanke springen, Assoziation an Assoziation reihen, Zitat an Zitat. Laurence Bertrand Dorléac kommt im Katalogvorwort der Ausstellung „Les Choses“, die sie für den Louvre ausgerichtet hat, vom Hundertsten ins Tausendste; schlägt einen Bogen vom altgriechischen Mosaizisten Sosos zur New Yorker Fotografin Nan Goldin, von antiken Opferriten zur Wannsee-Konferenz, von der Venus von Laussel zu Robotern; führt nicht weniger als siebenundvierzig Philosophen und Schriftsteller an. Aber worum es in der Schau geht, wird nicht recht deutlich.
Die einleitende Texttafel in der unwirtlichen Hall Napoléon des Louvre ist da ungleich weniger gewunden. „Une histoire de la nature morte“ lautet ihre Überschrift knapp und klar. Eine Geschichte des Stilllebens also. Nur dass sehr zahlreiche Exponate hier bei bestem Willen nicht dieser Gattung zugeordnet werden können. Giacomettis bronzene „Table surréaliste“ ist kein Stillleben. Van Goghs „Schlafzimmer in Arles“ ist kein Stillleben. Installationen, Assemblagen, Ready-mades sind es ebenso wenig, es sei denn, Begriffe hätten keine Bedeutung mehr und Kunstgeschichtsschreibung würde Makulatur. Mit demselben Mangel an Berechtigung, mit dem hier Genre- und Interieurmalereien, Verkündigungen und Tierstücke, Skulpturen und Spielfilme für Stillleben ausgegeben werden, könnte man auch Zimtstern und Forelle Müllerinart gleichsetzen (beide enthalten Mandeln) oder Trauermarsch und Ragtime (sie stehen jeweils im Zweiertakt).
Der Einwand, gattungsfremde Werke fungierten in dieser Schau gleichsam als Beweisstücke einer wie auch immer gearteten Argumentation, als Illustrationen dessen, was sich jenseits der Grenzen des Genres befindet, oder als Inspirationsquellen beziehungsweise ihrerseits durch Stillleben inspirierte Kreationen, sticht nicht. Kommentarlos werden sie hier unter vollgültige natures mortes gemischt, als wären sie selbst welche. So verwischen sich für kunsthistorisch unbeleckte Besucher sämtliche Grenzen und versinkt alles in einem flauen Farbnebel. Statt dass im Gegenteil die vielfachen Verästelungen der Gattung freigelegt würden – diese hat sich im Lauf ihrer zweieinhalbtausendjährigen Geschichte ja aufgefächert in Blumen- und Früchtemalerei, in Waldbodenstücke, Gedeckte Tische und Monochrome Bankette, in Jagd-, Fisch-, Markt-, Prunk-, Küchen-, Tabak-, Waffen-, Vanitas-Stillleben, in Trompe-l’œil und etliche weitere Untergattungen.
Während die letzte deutschsprachige Gesamtdarstellung zum Thema, Sybille Ebert-Schifferers vierhundertseitige „Geschichte des Stillebens“ (1998 wurde der Gattungsname noch ohne das dritte „L“ geschrieben), genau diese – auf eine profunde Kenntnis des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, naturwissenschaftlichen, religiösen und moralischen Hintergrunds abgestützte – Art von Ausdifferenzierung betrieben hatte, wählt Dorléac einen radikal anderen Weg. Durch ikonografische Erbsenzählerei wohl gelangweilt, ändert die Kunsthistorikerin und Präsidentin der Pariser Sciences-Po-Stiftung den nach ihrem Empfinden unpassenden französischen Gattungsnamen „nature morte“ – „die Natur ist immer lebendig, zumal wenn Künstler sich um ihre Darstellung scheren“, moniert sie – in „chose“ um. Und zieht die Konturen neu: Als Stillleben, pardon: als „Chose“ gilt in der revolutionären Louvre-Ausstellung jedes Kunstwerk, in dem mindestens ein Vertreter der Dingwelt zu sehen ist. Damit fällt potenziell der größte Teil der Kunstproduktion aller Länder und Epochen in den Zuständigkeitsbereich des hoffnungslos ausufernden Unternehmens – was der 169 Exponate zählende Parcours nur allzu kunterbunt vor Augen führt.
Dass man „Les Choses“ mehr frustriert als wirklich verärgert verlässt, ist zwei Qualitäten zu verdanken, die die Schau vor dem Schiffbruch retten. Erstens reiht sie Meisterwerk an Meisterwerk, darunter viele Ikonen des Genres, von einem berühmten Memento-mori-Mosaik aus Pompei über Klassiker von Willem Kalf und Lubin Baugin, Oudry und Chardin, Courbet und Manet, Cézanne und Gauguin, Matisse und Picasso bis zu Würfen mit hohem Wiedererkennungswert von der Hand „lebender Nationalschätze“ wie Gerhard Richter (ein flauer Schädel) und Miquel Barceló (eine Grisaille mit einer Auswahl der Lieblingsmotive des Balearers). Erstklassige Exponate machen bekanntlich noch keine gelungene Schau, aber sie bieten doch eine stattliche Entschädigung im Falle des konzeptuellen Misslingens.
Zweitens sind zwar etliche der fünfzehn Kapitel konsternierend flau umrissen. Den Einführungstexten fehlt es durchweg an Klarheit – und was soll man von Überschriften halten wie „Häufung, Tausch, Markt, Plünderung“ oder „Auswählen, sammeln, ordnen“ (gefolgt von „Alles neu ordnen“)? Ein paar wenige Sektionen indes, die klassischeren Zuschnitts sind, überzeugen durchaus. Neben jenem über die Vanitas-Untergattung zeigt so namentlich das Kapitel über tote oder gebundene Tiere, wie Stillleben sich – in Schlachthausszenen von Rembrandt oder Goya – mit kruder Intensität, ja blutigem Pathos aufladen können, wie sie aber auch – in einem von Zurbaráns „Agnus Dei“-Bildern – der Typologie der spanischen Bodegones christliche Symbolik aufzupfropfen vermögen. Endlich ist die Auswahl der modernen und zeitgenössischen Exponate zwar qualitativ durchwachsen – ein wurmzerfressener Bronze-Schädel der Chapman-Brüder oder ein Film von Sam Taylor-Johnson, der Obst im Zeitraffer verrotten zeigt, wirken allzu plakativ beziehungsweise simpel. Doch einigen gelingt es, fantasievolle Dialoge mit den Werken alter Meister zu führen – so einer monumentalen Gedeckte-Tisch-Variation von Matisse mit der betreffenden Vorlage von Jan Davidsz. de Heem oder einer Fotografie von Joel Peter Witkin und einem Animationsfilm von Jan Švankmajer mit zweien der Kompositköpfe von Giuseppe Arcimboldos „Jahreszeiten“.
Unter dem Strich: eine schlecht konzipierte Schau – aber trotzdem viel zu sehen und manches zu denken.
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