Koloraturen von rechtsaußen
- marczitzmann
- vor 4 Tagen
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Aktualisiert: vor 1 Tag
Welche Agenda verbirgt sich hinter französischen Jammerarien über den Raub „unserer Juwelen“?
Der Kronjuwelenraub im Louvre als Symbol des Niedergangs der Grande Nation? „Deklinologen“ werden seit gut zwei Wochen nicht müde, das „Argument“ an realen wie medialen Stammtischen zu wiederholen. Diese sehr französische Spezies von Kassandren, die sehr viel öfter unrecht haben als recht, sucht obsessiv nach Indizien für den Verfall („déclin“) Frankreichs. Früher gaben sich „Deklinologen“ einen wissenschaftlichen Anstrich. Heute haben sie eine Agenda. Wer urbi et orbi über Dekadenz klagt, ruft – zunehmend explizit – auch nach Regeneration. Aus welchem Lager diese kommen soll, ist klar: Dem einzigen, das seit der Vichy-Zeit keine Regierungsverantwortung mehr getragen hat.

Marine Le Pen, die Fraktionsvorsitzende des rechtsextremen Rassemblement national (RN) in der Unterkammer des Parlaments, beklagte so „eine erneute Heimsuchung für unser Land“. Jean-Philippe Tanguy, der Vizepräsident besagter Fraktion, greinte: „Jeden Tag werden unsere Kirchen geplündert, jetzt der Louvre“. RN-Präsident Jordan Bardella fragte rhetorisch: „Wie weit wird sich unser Staat noch auflösen?“. Éric Ciotti, der Führer einer mit dem RN verbündeten Splitterpartei, erschauerte angesichts „einer bedrohten Nation“. Megafonträger der „Bollosphäre“ und Artverwandte stimmten 24 Stunden am Tag den Trauerrefrain eines „französischen Desasters“ an (so das Wochenblatt „Valeurs actuelles“), wo nicht gar eines „Frankreichs im Verfall“ (so der Radiosender Europe 1). Wer nur aus den Trögen des rechtsextremen Tycoons Vincent Bolloré sein mediales Fast-Futter bezieht, möchte meinen, das Land sei akut in seiner Existenz bedroht.
„Deklinologen“ und „Werweißologen“ hatten umso freieres Feld für ihre Polemiken und Spekulationen, als es bis zu den ersten Festnahmen sechs Tage nach dem spektakulären Raub vom 19. Oktober nicht viel Handfestes zu berichten gab. Mit Mutmaßungen über das Profil der Täter und den Wert der Beute ließ sich jedenfalls kein 24-Stunden-Programm füllen. So stimmten in den einschlägigen Radio- und Fernsehsendern atemlose Interviews mit „Experten“ und polternde Diskussionsrunden mit sachfremden Meinungsstarken den Refrain des einsturzgefährdeten Staatsgefüges an, der mit Auflösung bedrohten Nation.
Seriöse Medien verbreiteten zur selben Zeit eher sparsam die paar konkreten Informationen, die sie im Lauf der Tage zusammentragen konnten: Die Sicherheitsvorkehrungen des Louvre waren mangelhaft, nicht nur wegen des realen Geldmangels; der Materialwert der sieben gestohlenen, in ihrem originalen Zustand unverkäuflichen und bis jetzt noch nicht wiedergefundenen Kronjuwelen beträgt 88 Millionen Euro; die seit vorletztem Samstag in und um Paris festgenommenen sieben Männer – gegen etliche von ihnen wurden mittlerweile Ermittlungsverfahren eingeleitet – weisen a priori nicht das Profil von Meisterdieben auf oder von Profi-Räubern im Sold eines mysteriösen millionenschweren Sammlers.
Vor allem jedoch standen in „Le Monde“ und in „Libération“ zwei Meinungen zu lesen, die den hochdramatischen Jammerarien über den Raub „unserer Juwelen“ einen Dämpfer aufsetzten beziehungsweise die emotionalen Koloraturen auf ihre wahren, verborgenen Motive hin abhorchten. Fast niemand wusste vor dem Überfall um die Existenz dieser Juwelen, schrieb so Michel Guerrin, einer der Chefredaktoren der Zeitung, bewusst pointiert in „Le Monde“. Heute heuchlerisch als „die Seele Frankreichs“ beweint, waren sie vordem „in einem Ozean von Indifferenz ausgestellt“. Die Galerie d’Apollon, in der sie hinter Glas gähnten, wurde laut Guerrin nur „von wenigen Besuchern“ aufgesucht, und allein um ihres Dekors willen, nicht wegen „verstaubter Klunker“. Man gehe nicht in den Louvre, um Ohrringe und Broschen zu bestaunen – sondern italienische, französische und flämische Gemälde, griechische Vasen und Skulpturen, altägyptische Fundstücke.
Thomas Legrand entlarvte seinerseits in „Libération“ die zivilisationskämpferischen Motive hinter dem gespielten Gejammer über den Zivilisationsverfall. „Jedes Ereignis in den nationalen Nachrichten“, schrieb der Autor einer täglichen politischen Kolumne mit einem Seitenhieb auf die schrägen Metaphern der „Deklinologen“, „wird zum Tropfen, der das Pulverfass zum Explodieren, oder zum Funken, der das Fass eines Frankreichs zum Überlaufen bringt, das am Rande des Abgrunds, des Bürgerkriegs, der Invasion steht. Politische Kräfte, die nicht mehr nach Antworten auf die Krisen des Vertrauens, der Wirtschaft, des Sozialen, der Umwelt, der Identität suchen, ziehen es vor, den Zusammenbruch und das Chaos zu überstrapazieren, damit dem Anschein nach ein einziger möglicher Ausweg bleibt: die autoritäre Lösung.“



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