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marczitzmann

Kantige Konflikte, fließende Figuren

Aktualisiert: 10. Nov. 2023

Ivo van Hove dramatisiert zwei Filme Ingmar Bergmans am nach langer Schließung wiedereröffneten Théâtre de la Ville in Paris


Ein Sommernachtsalbtraum am Meer. Wasser in all seinen Formen: als nächtlicher Nebel über den Boden fließend, im bronzegoldenen Morgenlicht schaukelnd, als Schauer vom Sturmwind her- und sogleich wieder fortgetrieben. Hände schöpfen es am Ufer zur Kühlung beim Sonnenbad, Körper zerteilen es auf der Flucht zu stiebenden Garben. Dazu Klänge – verwehte, verfremdete Fetzen von Songs, Naturlauten, Radio- und TV-Sendungen – und Farben: das vibrierende Orange einer erinnerten Orgie, das klamme Blauviolett der nachfolgenden Schuldgefühle. Ivo van Hoves Bühnenadaptation von Ingmar Bergmans Spielfilm „Persona“ aus dem Jahr 1966 haftet im Gedächtnis als eine Folge von Impressionen: Flüssigkeit, Musikalität, ein Gefühl von Leichtigkeit, bei aller Schwere des Stoffs – eine gefeierte Schauspielerin verfällt jäh in völliges Schweigen, kommt in ärztliche Behandlung, sucht unter der Obhut einer jungen Krankenschwester auf einer einsamen Insel zu genesen. Doch zwischen Traum und Realität, Spiel und Ernst, gerät da vieles ins Schwanken.


Gleicht Bergmans Schwarzweißfilm einer Aquatinta von Odilon Redon, so evoziert van Hoves Adaptation ein Seestück von Turner. Das Grafisch-Enigmatische der Vorlage – Naheinstellungen von Gesichtern auf der formalen Ebene, eine Mise en abyme der Kinematographie auf der inhaltlichen – lässt sich auf der Bühne nicht gut wiedergeben. So macht sich van Hove, dicht am Drehbuch, den Stoff mit genuin dramatischen Mitteln zu eigen. Das meint, neben der antinaturalistischen Lichtgestaltung und dem zaubertrickhaften Bühnenbild des jahrzehntelangen kreativen Partners Jan Versweyveld – ein grauer Psychiatrie-Karzer, der sich im Nu in ein von schwarzen Fluten umflossenes Sonnendeck verwandelt –, vor allen Dingen das wechselseitige Geben und Nehmen mit staunenswerten Schauspielern. Und zuvörderst mit Justine Bachelet in der Rolle der einst durch Bibi Andersson verkörperten Krankenschwester: ein Naturkind, dessen scheinbar stille Wasser aufgewühlte Abgründe bergen. Die junge Darstellerin, die schon in van Hoves Inszenierung von Tennessee Williams‘ „Glasmenagerie“ 2020 nicht nach, sondern neben Isabelle Huppert Staunen und Bewunderung erregt hatte, fesselt durch eine ganz eigene Art von Innerlichkeit: burschikos, kindlich-schmollend, dabei auf einem bis zum Reißen gespannten Nervenseil balancierend.


In „Persona“ stehen ihr Elizabeth Mazev als verstörend distanzlose Ärztin sowie Emmanuelle Bercot und Charles Berling in einer stummen respektive kurzen Rolle zur Seite. Die beiden Letztgenannten spielen neben Bachelet auch in „Après la répétition“ mit, der Adaptation von Bergmans spätem Fernsehfilm „Nach der Probe“ (1984), die den dreistündigen Abend eröffnet. Ein alternder Regisseur und eine Jungschauspielerin, abends in den Kulissen eines sonst menschenleeren Theaters: Er begehrt sie (nicht nur sinnlich), sie braucht ihn (nicht nur beruflich). Zwischen beide schiebt sich der Schatten eines verblichenen Bühnenstars: die einstige Geliebte des einen und Mutter der anderen. Bercot, hautenge Jeans, kniehohe Stiefel und zu tief dekolletierter Schlabberpulli, spielt das Wrack, das den Regisseur um etwas Liebe und eine Hauptrolle anbettelt, mit einer faszinierenden Bandbreite an Ausdruckslagen, zwischen tränenerstickter Selbstbemitleidung und trockenem Geschäftston.


Bachelet und Berling haben demgegenüber zunächst weniger dankbare, weil vorhersagbare Rollen. Doch dann schlägt Bergman – und mit ihm van Hove – eine überraschende Volte: Er lässt den Altregisseur und die Jungschauspielerin ihre noch nicht angefangene Affäre im bald hitzigen Zwiegespräch skizzieren, ja breit ausmalen, vom ersten Kaffee in der Kantine bis zum Abend nach der Generalprobe, wo beide von Hochzeit und Kindern sprechen würden und genau wüssten: Der Vorhang senkt sich über ihre Liebe. Van Hove taucht diese Szene ins falbe Licht einer Tischlampe und lässt die Titel am Arbeitslaptop durchgezappter Scott-Walker-Songs die Etappen der im Keim zerredeten Beziehung resümieren: “Do I Love You”, “The Old Man’s Back Again”, “It’s Raining Today”, “On Your Own Again”.


Vieles verbindet die beiden für das Doppelprogramm adaptierten Vorlagen: Der Fokus auf die Schauspielkunst, auf die Dichotomie von Sein und Schein, auf die Schwierigkeit, die Mutterrolle zu spielen. Van Hove verklammert „Nach der Probe“ und „Persona“, indem er sie mit denselben Darstellern besetzt (bis auf Mazev) und sogar ein Requisit hier wie da verwendet, einen Metalltisch. Der Regisseur (und seit Monatsanfang amtierende Intendant der Ruhrtriennale), der bekannt ist für seine Adaptationen von Antonioni-, Bergman-, Cassavetes-, Pasolini- und Visconti-Filmen, zeichnet sich selbst aus durch die kinematografische Effizienz seiner Inszenierungen – von der systematischen Verwendung von Mikroports zwecks besserem Textverständnis bis zum Soundtrack, der Stimmungen unterstreicht, und zur Livekamera, die Körper- und Mienenspiel vergrößert. Oft geraten van Hoves Produktionen eine entscheidende Spur zu schlackenlos. Bei „Après la répétition/Persona“ indes fördert das Kammerspielformat die Verdichtung.


Das Remake einer niederländischsprachigen Produktion von 2012 mit französischen Schauspielern bildet den einstweiligen Höhepunkt des Saisonstarts am Pariser Théâtre de la Ville. Nach siebenjähriger Schließung zwecks (vierzig Millionen Euro teurer) Totalrenovierung wurde das geschichtsträchtige Dreispartenhaus im September mit einer Bühnen-, Belüftungs- und Klimatisierungstechnik auf dem neuesten Stand wiedereröffnet. Die Eingangshalle, durch das Pariser Architekturbüro Blond&Roux von zwei zentralen Treppen befreit und mit neuen Mezzaninen mit Glasbrüstungen und hellem Parkettboden umgeben, wirkt im Vergleich zu vordem unfassbar licht und weit. Über die Place du Châtelet hinweg blicken Besucher nunmehr auf das gleichnamige Theater, das 1862 zeitgleich mit dem heutigen Théâtre de la Ville eröffnet wurde. Zum Saal hin erhebt sich wie eine monumentale Betonskulptur die Unterseite der 1968 erbauten Betonschale, die die – heute 932 – Sitze mit ausnahmslos exzellenter Sicht trägt. Ein Kuppelsaal unter dem Dach mit derselben Grundfläche wie die knapp dreihundert Quadratmeter große Bühne beherbergt nicht mehr nur Proben, sondern auch Aufführungen vor bis zu hundertdreißig Zuschauern. Der Bau selbst wurde zu Ehren seiner illustren Direktorin zwischen 1899 und 1923 in „Théâtre Sarah Bernhardt“ zurückbenannt – so hieß er in seiner wechselvollen Geschichte bereits zweimal. Der große Saal könnte seinerseits dereinst den Namen der bekanntesten Propagatorin des Tanztheaters tragen, die dem Haus seit 1979 aufs Engste verbunden war: Pina Bausch.



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