Fast durchweg in Moll: Das Pariser Mémorial de la Shoah zeigt eine materialreiche Ausstellung zum Thema „Musik in den NS-Lagern“
„Des Lagers Stimme“ nannte sie Primo Levi in „Ist das ein Mensch?“, seinen Erinnerungen an Auschwitz: die Märsche und Volkslieder, die dort „alle Tage, morgens und abends“ ertönten. „Sie haben sich in unsere Köpfe eingegraben, und sie werden das Letzte sein, was wir vom Lager vergessen werden: Des Lagers Stimme sind sie, der wahrnehmbare Ausdruck seines geometrisch konzipierten Irrsinns und eines fremden Willens, uns zunächst als Menschen zu vernichten, um uns dann langsam zu töten.“
Die Präsenz von Musik in NS-Lagern entspringt direkt der Ausbildung und Organisation von deren Hauptakteuren. Nach dem Sturz der SA 1934 war die SS zuständig für die KZs geworden. Jede SS-Garnison besaß eine Blaskapelle. Diese begleitete Truppenbewegungen und spielte bei Militärzeremonien sowie offiziellen Besuchen. Nach dem Drill wurde bei „Kameradschaftsabenden“ gern musiziert. Endlich waren als Disziplinarstrafen verhängte Leibesübungen oft von Liedersingen begleitet. Die hier skizzierten vier Funktionen von Musik im Militärwesen übertrugen die SS-Verantwortlichen auf die Lagerwelt: koordinieren, valorisieren, unterhalten, bestrafen.
Zunächst dienten Töne und Rhythmen der Koordinierung. Abmarsch und Rückkehr der Arbeitssklaven, die jeden Morgen durch das KZ-Tor hinaus defilierten, um Moore trockenzulegen, sich beim Straßenbau oder in Fabriken abzuquälen, begleitete ein Instrumentalensemble. Unterwegs wurde a cappella gesungen; jeder Insasse hatte deutsche Volkslieder auswendig zu lernen, bei Fehlern drohten Prügel. Nicht nur sorgte das ebenmäßige Skandieren für Gleichschritt, Singen unterband auch jede mündliche Kommunikation. Ziel dieser Produktion musikalischer Formen ohne Inhalt noch Gefühl war es, eine einförmige, willfährige Menschenmasse zu bilden. „Wenn diese Musik erklingt“, schrieb Levi, „wissen wir, dass sich unsere Kameraden draußen im Nebel wie Automaten in Bewegung setzen; ihre Seelen sind tot und es ist die Musik, die sie vorwärtstreibt wie der Wind die trockenen Blätter, es ist die Musik, die die Willenlosen in Bewegung setzt”.
Zweitens dienten Töne und Rhythmen der Valorisierung der Lager und ihrer Leiter. Ensembles produzierten sich so bei Besuchen geladener Gäste, fremder Lagerkommandanten, wo nicht gar des Reichsführers SS höchstselbst. Das Prestige des jeweiligen, fast möchte man sagen: „Besitzers“ stützte sich dabei nicht nur auf die Stärke des betreffenden Klangkörpers (die Lagerkapelle von Auschwitz I, dem Stammlager des Riesenkomplexes, zählte 1942 bis zu hundertzwanzig (!) Musiker), sondern auch auf seine Güte. Unter der Leitung von Simon Laks respektive Alma Rosé (der Nichte Gustav Mahlers) erreichten das Männer- wie das Frauen-Orchester von Auschwitz II Birkenau ein angesichts der Umstände unfassbar hohes Niveau. Der stellvertretende Lagerkommandant von Buchenwald war gar so stolz auf „sein“ Ensemble, dass er dessen Mitglieder in alte Uniformen der königlichen Garde Jugoslawiens steckte. Prompt sah man auch in Dachau, Dora, Mauthausen, Treblinka und in den Lagern des Auschwitz-Komplexes Musiker-Trachten auftauchen. Im Pariser Mémorial de la Shoah zeigt die Ausstellung „La musique dans les camps nazis“ zurzeit neben Partituren, Instrumenten, fotografischen und audiovisuellen Zeugnissen auch eine dieser blau-roten Uniformen mit goldgelbem Saum. Der stellvertretende Lagerkommandant von Buchenwald ging 1938 gar so weit, bei zwei jüdischen Insassen die Komposition einer „Lager-Hymne“ in Auftrag zu geben. Nicht zuletzt dienten alle genannten Initiativen der Aufrechterhaltung einer Potemkinschen Normalität.
Diese ge- und erzwungene Normalität erheischte, drittens, auch, dass Musiker zum Vergnügen der SS-Leute spielten. Geburtstage, militärische Siege, Saufabende im Lagerbordell – an Gelegenheiten fehlte es nicht. In Auschwitz II Birkenau probte unweit der Rampe das Frauenorchester den ganzen Tag lang und spielte auf Abruf für hereinschauende Offiziere Stücke aus seinem breiten Repertoire, wie eine lebende Jukebox. In Chełmno erkoren SS-Männer den dreizehnjährigen Simon Srebnik zur Maskotte und ließen ihn Lieder singen, derweil sie Säcke voller menschlicher Asche in den Fluss leerten – eine der erschütterndsten Szenen in Claude Lanzmanns Monumentalfilm „Shoah“ hält die Rückkehr des Überlebenden an den Ort seiner kindlichen Leiden fest. Verboten war derlei nicht – im Gegensatz zum Musikmachen mit Häftlingen, wie es hin und wieder geschah. So drang im KZ Gusen II eines nachts ein sturzbetrunkener Rapportführer in eine Schlafbaracke ein, nötigte einen Insassen, sein Gejohle mit Gitarrenklängen zu unterlegen, und erwürgte im Morgengrauen einen anderen. Dabei bevorzugte das Fußvolk der SS – keineswegs im Einklang mit dem klassischen Geschmack der meisten Rangoberen – „Zigeunermusik“ und Jazz. Ensembles, die diese als entartet verschrienen Genres pflegten, fand man namentlich in Bergen-Belsen, Buchenwald, Mauthausen und im „Zigeunerfamilienlager“ von Auschwitz II Birkenau. Der Niederländer Richard van Dam wurde daselbst gar regelmäßig in die Politische Abteilung beordert, dem Sitz grausiger Folterungen, wo er, durch Rottenführer Pery Broad am Akkordeon begleitet, amerikanische Jazzsongs wie „I’m Nobody’s Sweetheart Now“ zum Besten gab.
Als Journalist sollte man es hier beim Nennen der trockenen Fakten belassen – mit ihrer Mischung aus Horror, unfreiwilliger Komik und das gewöhnliche Fassungsvermögen sprengendem Irrsinn könnten derlei Szenen allenfalls durch einen ganz großen, ganz tollen Romancier zum Leben wiedererweckt werden (Jonathan Littell war 2006 in „Die Wohlgesinnten“ an dieser Aufgabe gescheitert). Das gilt erst recht für die Gräuel, auf die im Folgenden ein Streiflicht fallen soll. Musik diente im KZ-Kontext nämlich auch dem Strafen und Martern. Hinrichtungen etwa begleitete häufig der Gesang von auf dem Appellplatz versammelten Insassen, wo nicht gar das Spiel der Lagerkapelle, wie in Neuengamme. In Mauthausen wurde die Exekution des Ausbrechers Hans Bonarewitz 1942 als eine perfide Parade inszeniert, mit einem Spott-Defilee zu Liedern wie „Komm zurück“ oder „Alle Vögel sind schon da“. Musik diente so als Mittel zur Erniedrigung, ja als Folterwerkzeug. Eine gängige Tortur war zum Beispiel das stundenlange Absingen von Liedern auf dem Versammlungsplatz am Ende quälend langer Arbeitstage. Auch Geschundene wie die Mitglieder des „Schuhläufer-Kommandos“ von Sachsenhausen, die täglich an die vierzig Kilometer auf einer Piste laufen mussten, um Schuhwerk zu testen, oder die in mehreren Lagern als menschliche Lasttiere eingesetzten „Singenden Pferde“ hatten zusätzlich zu ihrer eigentlichen Aufgabe Lieder zu schmettern. Im Rahmen des industriellen Tötungsprozesses hatte Musik endlich zur Aufgabe, die Täter anzutreiben und die Opfer zu täuschen. So spielte in der Ankunftszone des Vernichtungslagers Treblinka, wo ein falscher Bahnhof samt fiktivem Fahrplan und Fahrkartenschalter die Ankommenden in trügerische Sicherheit lullte, oft ein Schrammelensemble – wie auch in Bełżec und Sobibór. Derweil bei dem blutigen „Erntefest“ vom November 1943, als allein in Majdanek innerhalb eines Tages 18 000 Juden erschossen wurden, Lautsprecher Strauss-Walzer und Schlager wie „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei“ verströmten. Die „Arbeitsjuden“, die in Bełżec Leichen von den Gaskammern in die Gruben schleppten, befeuerten ihrerseits sechs Geiger, Flötisten und Akkordeonisten. Laut einem Überlebenden spielten diese Musiker „ohne Unterlass“.
Doch Musik lässt sich nicht so leicht zweckentfremden. Abends und sonntags wurde in vielen KZs informell, wo nicht klandestin musiziert. Verbotene Gesänge erklangen in den Latrinen – oder schlicht als Kopfkonzerte im Geist von Insassen. Hier und da kam es gar zu szenischen Aufführungen, mit Bordmitteln gebastelt, vom Krippenspiel bis zum Kabarett. Im Sammellager Gurs machte sich so „Schmocks höhnende Wochenschau“ über die „Säuberung im Zoo“ lustig:
Die Menschen sind schon eingeteilt,
Jetzt hat’s die Viecher auch ereilt.
Wer jüdisch hier sieht aus,
Muss raus, muss raus, muss raus.
Vom Rindvieh bis zum wilden Schwein,
Der ganze Zoo muss arisch sein.
Im „Vorzeigelager“ Theresienstadt, wo die (Über-)Lebensbedingungen weniger desperat waren als in den übrigen KZs, entstanden ganze Opern; anderswo zumindest kurze Lieder. In Auschwitz unterlegten polnische Insassen einer populären Tangomelodie einen neuen Text mit dem Titel „Gaskammer“. In Sachsenhausen dichtete Aleksandr Kulisiewicz zu einer Weise im Volkston ein dreistrophiges „Wiegenlied für Birkenau“. Dieses zeigt, dass man 1943 in Oranienburg über den im Osten laufenden Völkermord bis ins Detail unterrichtet war:
Schlaf ein, schlaf ein – ohne Mutti,
Hinter Stacheldraht, mein Kleiner…
Hast keine Milch und keine Amme –
Tod streckt die Klauen aus nach dir.
Schlaf ein, schlaf ein, so blass, zerschlagen,
Ganze vier Jährchen bist du nun geworden…
Die Mutti haben sie heut' totgeschlagen,
Der Papa erstickt schon morgen im Gas.
Schlaf ein, schlaf ein – mein Engelein,
Auf der Hölle Grund, hier schlaf ein.
Morgen vielleicht wird Herr Mengele
Keine Kinder mehr töten.
Die erschütternde Anfangsszene von Claude Lanzmanns Film „Shoah“: Simon Srebnik kehrt nach Chełmno zurück.
Bei aller Verzweiflung: Wer noch atmete, um zu singen oder eine Melodie zu erfinden, wer noch die Kraft hatte, eine Taste zu drücken oder einen Bogen über eine Saite zu führen, war noch am Leben. Und trotzte so dem Endziel des NS-Lagersystems. Musizieren war auf Insassenseite immer auch ein Akt des Widerstands. Als das „Tausendjährige Reich“ 1945 endgültig in Flammen aufging, spielten Sinti und Roma, die im KZ Bergen-Belsen gestrandet waren, Tag und Nacht Tanzweisen von Franz Lehár und Johann Strauss.
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