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Hundertneun Sekunden Terror

marczitzmann
Ein von „Charlie Hebdo“ herausgegebener Band erinnert zum zehnten Jahrestag des Anschlags an die ermordeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

 


Am 7. Januar 2015 verschafften sich zwei Terroristen mit Waffengewalt Zugang zur Redaktion des Pariser Satireblatts „Charlie Hebdo“. Innerhalb von hundertneun Sekunden ermordeten sie dort zehn Menschen: acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, einen Besucher sowie den Polizisten, der mit dem Schutz des durch Islamisten bedrohten Chefredakteurs Charb betraut war – gegen die Kalaschnikows der Gotteskrieger von eigenen Gnaden hatte der Leibwächter keine Chance. Zwei weitere Opfer wurden während dem Anmarsch beziehungsweise Rückzug getötet; ein dritter Terrorist erschoss seinerseits an den beiden Folgetagen in und bei Paris fünf Menschen. Die Bilanz von siebzehn Todesopfern an jenen drei Schreckenstagen wurde erschwert durch zwanzig Verletzte, unter ihnen solche mit zerschossenem Gesicht oder Rückenmark.


(Bild: PD)
(Bild: PD)

Zum zehnten Jahrestag des Anschlags, der Frankreich und die Welt erschüttert hat, erinnert der hauseigene Buchverlag Les Échappés an die ermordeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der 224 Seiten starke Band „Charlie Liberté“ bringt zu jeder und jedem von ihnen eine Kurzbiografie sowie eine die jeweilige Laufbahn abdeckende Auswahl von Zeichnungen und /oder Texten, zuzüglich Hommagen von Nahestehenden. Unternehmen dieser Art gleiten gern ins Hagiografische ab: Attentatsopfer, so scheint es mitunter, erfreuten sich zu Lebzeiten samt und sonders einhelliger Bewunderung, so sympathisch, intelligent und begabt muteten sie ihre Umwelt an. Diese Gefahr besteht hier nicht: Auf Seite 46 wird Elsa Cayat durch einen „Charlie“-Kollegen eine „durchgeknallte Tussi“ genannt, drei Seiten weiter erinnert ein Studienfreund pietätlos (aber mit quasifilmischer Lebendigkeit) die erste Begegnung: „Ich fand sie echt too much, mit ihrer hohen, etwas näselnden Stimme, ihrem übergroßen Schal, dem Lippenstift, der wirklich rot und wirklich glänzend war, den mit exzessiven – oh wie tunesischen! – Kajalstrichen umschmierten Augen, den überlangen Armen, die in alle Richtungen zappelten, vor allem dem unnachahmlichen, auf dreißig Meter Distanz unüberhörbaren Lachen.“


Zeichnung von Catherine Meurisse zu Elsa Cayats Buch „Noël, ça fait vraiment chier !“ (Les Échappés, 2015) (Bild: Elsa Cayat)
Zeichnung von Catherine Meurisse zu Elsa Cayats Buch „Noël, ça fait vraiment chier !“ (Les Échappés, 2015) (Bild: Elsa Cayat)

Statt stereotyp in Marmor gemeißelte Märtyrer der Presse- und Schaffensfreiheit treten einem hier markant profilierte Künstler- und Denkerphysiognomien entgegen. Cabu etwa, der erste in der alphabetischen Folge des Bands, in Frankreich das wohl bekannteste Opfer des Terroranschlags: Nach 27-monatigem Militärdienst in Algerien ein – wenn man so sagen kann – militanter Pazifist; Schöpfer eines verträumten, vor der Zeit grünen Alter Egos namens „Le Grand Duduche“ und der noch berühmteren Antifigur des frauen- und fremdenfeindlichen, in jeder Hinsicht ordinären „Beauf“; vor Gericht gestellt wegen Beschimpfung des Staatsoberhaupts (1972) und wegen Beleidigung des Militärs (1978); Autor einer narrensicheren Methode, um Carla Bruni zu zeichnen (erst eine lange Wurst, dann etwas Sauerkraut obendrauf) – was hatte dieser 76-Jährige für Berührungspunkte mit seinen vier Jahrzehnte jüngeren Mördern, die nichts gekannt hatten außer Sozialmisere und Salafisten? Die Tragik um „Charlie Hebdo“, um die versuchte Auslöschung einer Redaktion gründet – auch – in der Kollision von Sphären, die nie miteinander in Kontakt hätten kommen sollen, es wegen der „Globalisierung“, genauer: wegen der elektronischen Medien und der asozialen Netzwerke aber doch taten.


„Es ist hart, von Vollidioten geliebt zu werden“ – Zeichnung von Cabu für das Titelblatt der Ausgabe vom 8. Februar 2006 (Bild: V. Cabut / cabu-officiel.com)
„Es ist hart, von Vollidioten geliebt zu werden“ – Zeichnung von Cabu für das Titelblatt der Ausgabe vom 8. Februar 2006 (Bild: V. Cabut / cabu-officiel.com)

Denn das meiste, was man in „Charlie Liberté“ zu lesen und zu sehen bekommt, wendet sich an einen kleinen Kreis von Gleichdurchgeknallten. An verspätete Achtundsechziger mit konsternierend schlechtem Geschmack, deplorablem Humor und libertärer Gesinnung: Querulanten und Querdenker, Pornografen und Pennäler, Alternative, Aussteiger, Asoziale. Honoré etwa, ein Zeichner, der dadaistische Absurdität mit strenger, holzschnittartiger Grafik zu verbinden wusste, nahm Politiker jeder Couleur in despektierlichen Vignetten aufs Korn, vom Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen als gnomenhaft verwachsenem „Herrenmenschen“ über den unberührbaren neogaullistischen Gauner Jacques Chirac mit jovial gerecktem Mittelfinger bis hin zum treudoofen Sozialisten François Hollande als Astronaut im freien Fall („Jetzt bin ich im Guinness-Buch der Rekorde!“). Tignous seinerseits veralberte gern pauschal „die Reichen“, karikierte sie im Stil von George Grosz als rotnasige Bonzen mit Piranhagebiss, umschwirrt von Schmeißfliegen.


Dadaistischer Holzschnitt: Honoré war fasziniert durch Tiere. (Bild: Honoré)
Dadaistischer Holzschnitt: Honoré war fasziniert durch Tiere. (Bild: Honoré)

Der vormalige Redaktionschef Charb endlich, die primäre Zielscheibe der Dschihadisten, hasste alles und jeden (eine Rubrik hieß buchstäblich: „Charb mag keine Menschen“), träufelte sein Gift aber bevorzugt über die Welt des Sports. In einem Beitrag 2012 ergriff er so in der Fehde zwischen Surfern und Haien die Partei der Raubfische und wünschte diesen gar – im Rückblick eine unheimliche Vorahnung –, sie möchten einen opponierbaren Daumen hervorbringen, um so mit Kalaschnikows auf Wellenreiter feuern zu können. Prompt hagelte es aus der Gemeinschaft der Letzteren (Todes-)Drohungen. Im selben Jahr präzisierte Charb anlässlich der Veröffentlichung neuer Mohammed-Karikaturen – nach einer ersten Lieferung 2006 – in der Titelbildzeichnung der entsprechenden Ausgabe seine Definition von Humor: Ein Steinzeitmensch versinnbildlichte da, eine Schüssel Öl in der einen Hand, eine brennende Fackel in der anderen, „l‘invention de l’humour“.


Anfang 2012 malte (sich) Charb aus, was nach der Nominierung von Bernard Maris in den Generalrat der Banque de France die anderen Mitarbeiter von „Charlie Hebdo“ für Karrieren machen könnten. (Bild: Charb)
Anfang 2012 malte (sich) Charb aus, was nach der Nominierung von Bernard Maris in den Generalrat der Banque de France die anderen Mitarbeiter von „Charlie Hebdo“ für Karrieren machen könnten. (Bild: Charb)

Doch unter den ermordeten Mitarbeitern des laut Selbstbezeichnung (oder

Selbstbezichtigung?) „unverantwortlichen Blattes“ fanden sich nicht nur Zeichner – die, wie in der Branche üblich, auch für andere (Links-)Publikationen arbeiteten und deren Stil im Lauf der Jahrzehnte stark changieren konnte, bei Wolinski etwa von einer von Details wimmelnden Saturiertheit à la „Mad“ zu einer mitunter an die Aphoristik des späten Sempé gemahnenden Sparsamkeit. Zu den Todesopfern zählte auch eine Psychiaterin und Psychoanalytikerin, die eingangs erwähnte Elsa Cayat. Zu ihnen zählte ein Ökonom, dem der große Spagat gelang zwischen der globalisierungskritischen Nichtregierungsorganisation Attac und dem Tempel der geldpolitischen Orthodoxie, der Banque de France, denen er beiden angehörte: Bernard Maris. Ein algerischer Korrektor, der für Artaud und Rimbaud schwärmte, seit 1991 Texte gallischer Kollegen verbesserte, aber erst ein Jahr vor seiner Ermordung die französische Staatsbürgerschaft erhielt (und postum zum Ritter im Orden der Künste und der Literatur ernannt wurde): Mustapha Ourrad.


Mustapha Ourrad, bei der Arbeit beobachtet durch Riss, der heute als Chefredakteur amtiert (Bild: Riss)
Mustapha Ourrad, bei der Arbeit beobachtet durch Riss, der heute als Chefredakteur amtiert (Bild: Riss)

Und endlich auch ein Webmaster und studierter Historiker, den am 7. Januar 2015 die erste Kugel der Terroristen traf, der sein Erwachen erst aus dem Koma, dann aus dem qualvollen Sarkophag eines bis auf die Augen gelähmten Körpers 2020 in den Spalten von „Charlie Hebdo“ geschildert hat, im Oktober 2024 aber dem Überdruck des Traumas nicht mehr standzuhalten vermochte. Die Ursache für das Hinscheiden von Simon Fieschi im Alter von vierzig Jahren ist noch nicht geklärt – doch schon jetzt gilt er als das elfte Todesopfer der hundertneun Sekunden Terror in der Redaktion von „Charlie Hebdo“.


Simon Fieschis Blick auf seine Umwelt, als er gelähmt in den Bleisarkophag seines Körpers eingeschlossen war (Bild: Coco)
Simon Fieschis Blick auf seine Umwelt, als er gelähmt in den Bleisarkophag seines Körpers eingeschlossen war (Bild: Coco)



Charlie Liberté (Sammelband). Les Echappés, Paris 2024. 224 S., Euro 29,90.
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