Eine funkelnde, farbensatte, fantastisch facettenreiche Lebensgeschichte – Sarah Bernhardt im Pariser Petit Palais
Sarah Bernhardt (1844-1923) ist die berühmteste französische Schauspielerin aller Zeiten. So viele Verse, so viele Vorhänge, so viele Blumensträuße, Beifallsstürme und delirante Dithyramben. Doch was bleibt von ihrer Kunst? Ein paar Tonaufnahmen und etliche Stummfilme, deren kurios meckerndes Kojotengeheul beziehungsweise schmierenkomödiantische Gestik heute bestenfalls noch befremden. Für uns Nachgeborene ist die Bernhardt vor allem noch eines: eine funkelnde, farbensatte, fantastisch facettenreiche Lebensgeschichte – ein Juwel von einer Vita.
Geburt in den nebulösen Niederungen der Pariser Demimonde: Die Mutter und deren Schwester waren holländische Jüdinnen, die im modernen Babylon eine gewisse Situation als Kokotten erlangt hatten. Vernachlässigte Kindheit zwischen klösterlichem Beichtstuhl und galantem Boudoir; nach einem „Familienrat“ mit den Habitués des mütterlichen Salons 1859 die Entscheidung für die Synthese von Konvent und Bordell: das Theater. Nach schwierigen Anfängen (inklusive Rauswurf aus der Comédie-Française) 1869 der Durchbruch mit dem heute vergessenen Einakter eines damals unbekannten Jungdichters, „Le Passant“ von François Coppée. Bernhardt übernahm da die erste einer langen Reihe von Hosenrollen, die später auch Cyrano de Bergerac und Hamlet begreifen würde. Während des Deutsch-Französischen Kriegs allseits applaudierte Auftritte als Sanitäterin (eine Giftnatter ätzte, sie habe anderen Pflegern die Verletzten förmlich entrissen; fünf Jahrzehnte später würde die gebrechliche Greisin den Heroismus bis zu Rezitationen an den Kriegsgräben steigern).
Rückkehr an die Comédie-Française, wo der Jungstar mit durchschlagendem Erfolg romantische Dramen von Victor Hugo exhumierte und seine Paraderolle einstudierte, Racines Phèdre. Doch der Ruf der Selbstbestimmung (und des großen Geldes) war stärker: Mit Eklat reichte die Kapriziöse ihre Kündigung ein – eine Kopie ging an die Presse – und tingelte fortan mit handverlesen blassen Komparsen durch die Welt: durch Skandinavien, Russland, die Türkei, Ägypten, Südamerika, sogar Australien – vor allem jedoch durch Großbritannien, dessen Hauptstadt zum zweiten europäischen Standbein neben Paris wurde, und durch die USA. Impresarios, Sonderzüge, Auftritte in Zelten vor Cowboys, Empfänge in Präsidentenpalästen und Five o'Clock Tea mit gekrönten Häuptern – Bernhardt auf Tournee glich einer Feuersäule. Einem funkenstiebenden Wirbel aus Kunst-Kommunion, Skandal und Klatsch, angefacht durch den Blasebalg der frühkapitalistischen Reklame.
Das meckernde Kojotengeheul, aus dem Legenden sind: Sarah Bernhardt sprechgesangt 1903 „Phèdre“ in den Trichter
Die Kehrseite der goldglänzenden Medaille sei hier nicht verhehlt. Die Diva hatte Liebhaber und Liebhaberinnen im Dutzend, aber eine erfüllte Beziehung von Dauer blieb ihr versagt. Ihren Mitmenschen begegnete sie mit einer Mischung aus in Überherzlichkeit drapierter Gleichgültigkeit und grober Berechnung. Freunde waren ihr nicht viel mehr als ihre exotischen Haustiere: Accessoires. Hatte sie ein Herz? Falls ja, dann nur für den missratenen Sohn, Maurice, und für dessen zwei Töchter.
Ihre größten Erfolge feierte die ab 1882 auch als Theaterdirektorin wirkende Schauspielerin mehrheitlich in Dramen, die der Mahlstrom der Zeit zerrieben hat oder die nur dank einer Vertonung fortleben: „L’Aiglon“ von Edmond Rostang, „La Dame aux camélias“ von Alexandre Dumas (die Vorlage für Verdis „Traviata“), „Fédora“, „Théodora“, „La Tosca“, „Cléopâtre“ und „Gismonda“ von Victorien Sardou, Bernhardts „Leibdichter“. Statt Ibsen spielte die „Göttliche“ Herrmann Sudermann, statt Rimbaud, Verlaine und Mallarmé rezitierte sie Verse von Robert de Montesquiou. Die radikale Entrümpelung des französischen Theaters kurz vor 1914 durch Inszenierungen von Jacques Copeau und Gordon Craig sowie durch Texte von Gide und Péguy in der „Nouvelle Revue Française“ ging spurlos an ihr vorüber.
Und war sie wirklich die große Propagatorin des Jugendstils, als die sie oft gepriesen wird? Ihr hôtel particulier am Boulevard Pereire glich einer Wunderkammer des Eklektizismus‘: Neben Dekorationsobjekten von Daum, Gallé und Lalique konnte man darin auch Säbel, Steigeisen und Töpferwaren bestaunen, einen Renaissance-Schrein, japanische Räucherfässer, italienische Louis-XIV.-Sessel, skulptierte oder ausgestopfte Tiere, aus Neuseeland mitgebrachte Maori-Täfelungen zuzüglich – so ein seinerzeit zugelassener Reporter – „einen Ozean von Pelzen“. Diese Bären-, Biber- und Bisonhäute verströmten einen „zum Kopf steigenden Duft von Pfeffer und Kampfer“…
Von Sarah Bernhardts Kunst bleiben noch Bilder und Beschreibungen – von André Gills Karikaturen bis zu Prousts moribunder Berma, dem romanesken Double der Diva. Von ihrem Leben zeugen noch Anekdoten und Zoten (die bleiche Sanguinikerin war alles andere als züchtig), unvollendete und zum Gutteil erdichtete Memoiren sowie Aperçus von scharf beobachtenden und formulierenden Zeitgenossen wie Henry James oder Jules Renard. Wie nun stellt man diesen in viele Fragmente zersprengten Mythos aus? Der Pariser Petit Palais hat zum hundertsten Todestag der Diva eine jener Ausstellungen ausgerichtet, die das Markenzeichen des städtischen Kunstmuseums bilden. Sie geht zugleich in die Breite und in die Tiefe, ist ebenso materialreich wie klar strukturiert – erwärmten noch ein wenig Witz, Impertinenz und augenzwinkernd überzogene Dramatik ihre Sachlichkeit, sie wäre restlos unwiderstehlich.
Doch auch so vermag sie mit vielen Trümpfen zu punkten. Darunter zuvörderst die durchweg den chronologischen Parcours säumenden Bernhardt-Porträts, von frühen Disdéri- und Nadar-Fotografien über die bekannten Ölgemälde der Vertrauten Louise Abbéma und Georges Clairin bis zu weniger geläufigen Lithografien von Toulouse-Lautrec und einer erstaunlichen Büste aus gefärbtem Marmor des Malers Jean-Léon Gérôme.
Ein Clou der Schau ist die im Stil der Pariser Kunst-Salons gestaltete Sektion mit Tableaus und Skulpturen aus der (ungeübten, aber nicht unbegabten) Hand Bernhardts, darunter ein bizarres Selbstporträt als mit Fledermausflügeln und Raubvogelfängen bewehrte Schimäre. Ehrfurcht gebieten die lange Galerie zu den meistbejubelten Rollen (mit namentlich den berühmten Jugendstil-Affichen von Alfons Mucha) und der Saal zur Allgegenwart des Bilds der „Göttlichen“ um die Jahrhundertwende. Endlich zollt die Ausstellung auch der engagierten Prominenten Tribut – Bernhardt kämpfte namentlich gegen die Todesstrafe und für die Rehabilitierung des zu Unrecht verurteilten Artillerie-Hauptmanns Dreyfus. Da schauspielerte die Dauerträgerin einer Maske mit den Zügen des eigenen Gesichts für einmal nicht: Gegen den Widerstand eines Teils ihrer Entourage, ja sogar des geliebten Sohns, trat sie für ihre innersten Überzeugungen ein.
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