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Von Lenin bis Putin

marczitzmann
Epische Künstelei statt dramatischer Direktheit: Ariane Mnouchkines neue Produktion, „Ici sont les Dragons“, gleicht einem dreidimensionalen Geschichtenbuch mit bunten, bewegten Bildern. Das Stück sucht den Ukrainekrieg durch die Russische Revolution zu erklären.


Am 6. Dezember, als wir die erste Pressevorstellung der neuen Kollektivkreation des Pariser Théâtre du Soleil besuchten, regnete Feuer vom Himmel herab auf Antoniwka, auf Krywyj Rih, Saporischschja und andere Orte in der Ukraine. Den dafür verantwortlichen Drachen zeigt Ariane Mnouchkine am Beginn von „Ici sont les Dragons“: Wladimir Putin. Der vom Internationalen Strafgerichtshof gesuchte mutmaßliche Kriegsverbrecher rechtfertigt da in einem Fernsehauftritt vom 24. Februar 2022 die der Russischen Föderation angeblich aufgezwungene „militärische Spezialoperation“.


„Was ist das? Mach das aus! Halt die Fresse!“ geht eine Figur namens Cornélia sogleich auf die den ganzen Bühnenhintergrund einnehmende Videoprojektion los. Hélène Cinque spielte schon in „Une Chambre en Inde“ (2016) und „L’Île d‘or“ (2021) dieses szenische Alter Ego der Regisseurin und Truppenchefin Mnouchkine: eine Heulsuse hart am Rande des Nervenzusammenbruchs, die schwerlich zur Sympathieträgerin taugt. Selbst Putin wirkt durch Cornélias Gekeife indisponiert – sein Gesicht zerfließt in Zeitlupe wie das einer Wachsfigur, seine Stimme wird immer tiefer, bis sie im Infrabass verblubbert.


Das Plakat von „Ici sont les Dragons“: „Hic sunt dracones“ – Volkstheater für Lateiner (Bild: Théâtre du Soleil)

Da huschen drei „Babayagas“ über die Bühne, nennen wir sie mit Shakespeare „Hexen“ oder mit Wagner „Nornen“, und raunen im Vorbeischwanken Dunkel-Orakelhaftes, was sie das ganze Stück über periodisch tun werden. Flugs landen wir 1916 irgendwo im Pas-de-Calais mit Winston Churchill an einer Schneewehe. Der damalige Kommandeur des 6. Bataillons der Royal Scots Fusiliers trägt kluge Gedanken vor, die er seinem Tagebuch anvertraut. Ähnliche Auftritte haben später – abzüglich der klugen Gedanken – der junge Gefreite Adolf Hitler und der Studienanfänger Joseph Goebbels.


„Wann kommen wir drei uns wieder entgegen, / In Donner, in Blitzen oder in Regen?“: Die drei „Babayagas“ (Bild: Lucile Cocito)

Nach über sechs Minuten kommen wir endlich zur Sache: Russland in den zehn Monaten zwischen Februarrevolution 1917 und dem Ende der ephemeren Demokratieblüte Anfang 1918. „Ici sont les Dragons“, begreift man im Rückblick, sucht Putins Versuche seit 2014, die Ukraine in Teilen zu annektieren und in Gänze zu terrorisieren, mittels einer gut hundert Jahre umspannenden Geschichtslektion zu beleuchten. Eine zweite Episode soll so nächstes Jahr bis 1945 führen, weitere Folgen dürften, so der (allzu?) ambitiöse Vorsatz, die acht Jahrzehnte bis heute abdecken.


Was herauskommt, ist ein hölzern-statischer historischer Abriss, den man am ehesten als eine lose Kette dramatisierter Buchberichte beschreiben kann. Wobei „dramatisiert“ hier lediglich die Aufbereitung für die Theaterbühne meint, nicht den Spannungsgehalt, das Konfliktpotenzial, die szenische Zündkraft – diese fehlen der Produktion durchweg. Ihre extensiven Lektüren zum Thema „Russische Revolution“ haben die Mitglieder des Théâtre du Soleil in Form glattpolierter Improvisationen verarbeitet, die mehrheitlich monologischer Natur sind.


Da werden Ansprachen gehalten, Gedichte aufgesagt, Briefe und Bücher vorgelesen, Zeitungsartikel während des vierhändigen Verfassens vorgetragen, Lieder gesungen, Schwänke zum Besten gegeben und Ereignisse durch Stimmen aus dem Off geschildert – aber dramatische Interaktionen gibt es so gut wie keine. Selbst da, wo Figuren mit unterschiedlichen Meinungen aufeinandertreffen, etwa Menschewiken und Bolschewiken oder zarentreue Bürger und meuternde Soldaten, trägt jeder nur seinen Standpunkt vor, ohne dass irgendwer irgendwen zu irgendetwas bewegen würde. Die wichtigste Triebfeder des Theaters fehlt so fast ganz: Dass Worte Aktionen anstoßen oder selbst Handlungsträger sind. Mnouchkines Theater ist, je länger, desto mehr, eines, das erzählt: ein dreidimensionales Geschichtenbuch mit bunten, bewegten Bildern.


Aktionslose Betriebsamkeit: Aufruhr in Petersburg (Bild: Lucile Cocito)

Diese Bilder sind gewohnt eindrücklich, vom Auftauchen des baldigen Ex-Zaren in weißer Uniform auf einem mechanischen Pferd aus dem Dunkel bis zur Oktoberrevolution, wo Petersburger mit dem Rücken zum Publikum auf eine Bucht mit pointillistischem Meer blicken, derweil aus der Ferne Reden von Lenin, Trotzki und anderen herbeiwehen. Aber die Ausstattungspracht von „Ici sont les Dragons“ vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass das Stück nicht nur formal bewegte, aber inhaltlich aktionslose Tableaus aneinanderreiht, sondern dass es auch der herkömmlichen Theaterrede misstraut. Die permanente Verwendung von Verfremdungseffekten und Finessen des Erzähldispositivs führt dazu, dass man die Protagonisten nurmehr als Chiffren, als abstrakte Bannerträger einer Partei oder Idee erlebt. So wird erstens gefühlt ebenso viel Russisch wie Französisch gesprochen, zuzüglich einigem Deutsch und Englisch, was die Augen der meisten Zuschauer weg von den Schauspielern hin zu den Untertiteln ziehen dürfte. Zweitens trägt ein Gutteil der Dutzende von Darstellern lebensnahe Masken, was Mienenspiel verunmöglicht, und es werden alle bis auf Hélène Cinque als Cornélia durch eingespielte Aufnahmen fremder Stimmen „synchronisiert“. Drittens und endlich führen Kunstgriffe wie Theater im Theater oder Film im Theater auf die Metaebene – epische Künstelei statt dramatischer Direktheit.


Cornélia (Hélène Cinque) „inszeniert“ als Mnouchkines Alter Ego ein Stück über die Russische Revolution, wird aber selbst immer wieder durch Protagonisten apostrophiert. (Bild: Lucile Cocito)

Ariane Mnouchkine ist eine der großen, vielleicht die größte Aktivistin der Theaterwelt. Sie hat sich im Lauf der sechzigjährigen Geschichte des 1964 gegründeten Théâtre du Soleil gemeinsam mit dessen Mitgliedern für Abtreibungswillige, Wehrdienstverweigerer und illegale Einwanderer eingesetzt, für das besetzte Tibet und das angegriffene Bosnien, hat früh schon die Gefahren des Islamismus angeprangert und geißelt heute Seite an Seite die „faschistoiden mafiosen Theokraten der Regierung Netanjahu“ und die „pornografisch schändlichen Unmenschen der Hamas“. Ihr Einsatz für die gemarterte Ukraine – im Restaurantsaal, der nach Borschtsch und Piroggen duftet, stehen Spendenbüchsen für den Kauf von Drohnendetektoren – schreibt sich ein in die lange Liste ihrer Kämpfe für die demokratischen Grundwerte.


Aber der ersten Episode von „Ici sont les Dragons“ fehlen Dringlichkeit wie Fokussierung. Das Stück gleicht einem aufwendig manufakturierten Kunstdrachen, der schwerfällig schnaufend Feuer speit und Schwefel sprüht, aber mit seinen Stummelflügeln in keinem Moment abhebt.


In der Erinnerung haften eindrückliche Bilder. (Bild: Lucile Cocito)

 

Ici sont les Dragons“ spielt bis zum 27. April 2025 in der Cartoucherie de Vincennes.
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