Alexis Michalik fliegt in Frankreichs Privattheatern seit zehn Jahren von Triumph zu Triumph. Das théâtre public schneidet ihn konsequent, doch Millionen von Zuschauern bejubeln den Dramatiker, Regisseur und Schauspieler. Derzeit laufen nicht weniger als sechs seiner Produktionen in Pariser Theatern.
So sieht Erfolg aus: Der franko-britische Dramatiker, Regisseur und Produzent Alexis Michalik hat am 13. Dezember seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert. Sein Erstlingsstück, „Le Porteur d’histoire“, wurde seit 2011 über dreitausendmal gespielt. „Edmond“, Michaliks drittes und bekanntestes Drama, hat seit 2016 über eine Million Theatergänger angezogen. Zusammen haben die fünf Texte, die der auch als Fernseh- und Filmschauspieler gefragte Götterliebling verfasst und inszeniert hat, ein Dutzend der französischen „Molière“-Bühnenpreise gewonnen und weit über drei Millionen Menschen zum Theaterbesuch bewegt. In Michaliks Geburtsstadt Paris steht zurzeit jedes der fünf Stücke auf dem Spielplan eines Theaters, zuzüglich der französischen Adaptation von Mel Brooks‘ Musical „The Producers“. Diese hat seit Dezember 2021 bereits zweihunderttausend Theaterfreunde und Musikliebhaberinnen ins Théâtre de Paris gelockt. Wie sehen die Ingredienzien dieser Erfolge aus – und lässt sich ein Grundrezept skizzieren?
Hauptmerkmal von Michaliks Theater ist der erzählende Charakter. Das Erstlingsstück bekennt bereits im Titel Farbe: „Le Porteur d’histoire“. Und hebt mit einer Publikumsansprache an, die den doppelten Sinn des Wortes „Geschichte“ – nämlich: Narration und Historie – problematisiert: „Wir werden Ihnen eine Geschichte erzählen. Aber zuvor möchten wir kurz ein paar Überlegungen anstellen über das Geschichtenerzählen an sich. Über die Bedeutung, die wir einer Erzählung beimessen. Und über die Grenzen zwischen Wahrheit und Dichtung.“ Die Reflexion auf der Metaebene macht hier bald einer Abenteuergeschichte Platz, Mischung aus „Der Graf von Monte Christo“ und „Indiana Jones“. Doch auch Michaliks drei folgende Stücke beginnen mit einer an die Zuschauer gerichteten Vorrede, die die kommende Handlung in einen historischen Rahmen stellt – oder geradeheraus die Frage stellt: „Was ist das für Sie: Theater?“. Kurz: Der Autor verwendet viel Erfindungskraft nicht nur auf das Ersinnen von Geschichten, sondern auch auf die Art und Weise, wie er sie erzählt.
Die Handlung seiner fünf Stücke lässt sich jeweils in einem Satz zusammenfassen. „Le Porteur d’histoire“ erzählt eine Schatzsuche über die Jahrtausende und Kontinente hinweg. „Le Cercle des illusionnistes“ (2014) die Stabsübergabe zwischen dem Theaterzauberer Jean-Eugène Robert-Houdin und dem Stummfilmmagier Georges Méliès. „Edmond“ (2016) die an Peripetien reiche Entstehung von „Cyrano de Bergerac“, dem erfolgreichsten Text des französischen Theaters. „Intra muros“ (2017) springt vom neunzehnten Jahrhundert, in dem die drei ersten Dramen ganz oder teilweise angesiedelt sind, in die Gegenwart und thematisiert einen Theaterworkshop im Gefängnis. „Une Histoire d’amour“ (2020) endlich verfolgt über fünfzehn Jahre hinweg die Liebe, Trennung und Versöhnung im Angesicht des Todes zweier Frauen, die ihren Kinderwunsch mittels künstlicher Befruchtung verwirklicht haben.
Was diese Kurzresümees nicht erahnen lassen, sind die Haken und Purzelbäume, die Michalik als Geschichtenerzähler laufend schlägt. Einer seiner Leitsätze ist es, den Zuschauer über den Fortgang der Handlung im Dunkeln zu lassen. Diese ist selten linear und vorhersehbar, vielmehr fliegt sie von Epoche zu Epoche (in den beiden ersten Stücken), von Stolperstein zu Stolperstein (in „Edmond“), von Enthüllung zu Enthüllung (in „Intra muros“). Einzig „Une Histoire d’amour“ verzichtet weitgehend auf Volten, wartet dafür aber mit einer Gespensterfigur sowie einem halboffenen Ende auf. Grundsätzlich kennzeichnen Michalik eine Lust am Fabulieren, wie man sie bei Feuilletonisten und Romanciers des neunzehnten Jahrhunderts findet, und ein Hang zum Pikaresk-Peripetienreichen.
Theatralik ist ein weiteres Wesensmerkmal seines Werks. Die drei frühen Stücke schreiben sich ein in eine gewisse französische – beziehungsweise frankofone – Tradition, die dem geschliffenen Text und dessen geölter Deklamation den Primat zuweist. „Cyrano de Bergerac“ ist das Paradebeispiel eines solchen Dramas: Das 1897 uraufgeführte Versstück überwältigt nicht nur durch verbale Virtuosität, sondern erhebt Wortgewandtheit, Formulierungskunst geradezu zu seinem heimlichen Hauptthema. „Edmond“ wählt den Autor dieses landauf, landab über zwanzigtausendmal (!) gespielten erfolgreichsten französischen Theatertexts aller Zeiten zum Helden: Edmond de Rostang. Und erzählt mit der Entstehungsgeschichte des Fünfakters gleich dessen Inhalt mit. Die bekanntesten Szenen werden so direkt aus dem Leben der Titelfigur hergeleitet, nach dem Prinzip „was mir gerade widerfährt verwandle ich instant in dramatische Alexandriner“. „Le Porteur d’histoire“ ist seinerseits erklärtermaßen von Wajdi Mouawads Tetralogie „Le Sang des promesses“ inspiriert, einem prägenden Theatererlebnis des jungen Michalik. Doch werden lediglich der epische Ansatz und die aufgesprengte Chronologie übernommen, nicht Mouawads dunkel raunende Rhetorik und die elisabethanisch-jakobinische Drastik der geschilderten oder gezeigten Gräuel. Denn Michaliks Texte sind um Prägnanz und Fasslichkeit bemüht – und unter dem Strich klar optimistisch: Bösewichter und Gewalttaten sucht man in diesem Wohlfühltheater vergebens.
Auch als Regisseur zielt Michalik zuvörderst auf Verständlichkeit und Effizienz ab. Von Peter Brook (dessen Tochter Irina ihm als Achtzehnjährigem die erste große Theaterrolle bot: Shakespeares Romeo) hat er den Ansatz übernommen, Theater quasi im leeren Raum zu machen, mit einem Minimum an Bühnenbild und Requisiten. Von Ariane Mnouchkine, das Ideal einer Truppe ohne Stars, in dem jede und jeder mit anpackt. In den frühen Stücken spielen die Schauspieler so Pantomime, schlüpfen von einer Rolle in die andere, tragen Möbel auf die Bühne. Ein weiterer markanter, nicht unbedingt glücklicher Einfluss ist jener des Off-Festivals von Avignon. Dort errang der junge Michalik – namentlich mit Shakespeare-Verwurstungen wie „Die halbwegs gezähmte Widerspenstige“ oder „R & J“ – die Gunst eines Publikums, dessen Maßeinheit für Schauspielkunst die auf den Brettern verbrannten Kalorien sind. Der zappelig-dezibelreiche Darstellungsstil, der in Avignons Off Konjunktur hat, zittert und dröhnt noch heute in Passagen von „Edmond“ nach (und fast im ganzen Musical „Les Producteurs“).
Doch meist geht Michalik zurückhaltender zu Werke. Zwei seiner Trümpfe sind die kinematografische Knappheit der Dialoge und die filmische Flüssigkeit, mit der er eine Szene in die andere übergehen lässt. Schnitt, Beleuchtung und musikalische Untermalung hat der Bewunderer von Billy Wilder und Bollywood offenkundig von Kinofilmen und Fernsehserien gelernt. Auch Rückblenden, Cliffhanger und andere in audiovisuellen Narrationen gern gebrauchte Erzähltechniken verwendet er häufig. Wenig Wunder, zählt seine eigene Filmografie neben sehenswerten Kurzfilmen wie „Au Sol“ und „Friday Night“ auch zwei abendfüllende Streifen, „Edmond“ (2019, in deutschsprachigen Landen mit dem plumpen Titel „Vorhang auf für Cyrano“ versehen) und „Une Histoire d‘amour“ (ab März 2023 in Frankreichs Kinos). Beide Adaptationen sind ungleich subtiler und sensibler als ihre jeweilige dramatische Vorlage. Während der Regisseur im Theater, wie er auf Anfrage ausführt, „aus Furcht, die Zuschauer zu verlieren, jedweden Leerlauf“ scheut, gestattet er sich im Film Momente des Innehaltens und Durchatmens.
„Intra muros“ wurde durch einen Theaterworkshop inspiriert, den Michalik in einem Gefängnis gegeben hat – das Theater Trier spielte die deutsche Übersetzung des Kammerstücks im Mai 2022 denn auch vor Häftlingen der Justizvollzugsanstalt Wittlich. Wie „Une Histoire d’amour“ zeugt „Intra muros“ von der Hinwendung des Dramatikers zu zeitgenössischen Stoffen. (Video: © Theater Trier)
Ein Wort noch zu Michaliks Rezeption in Frankreich. Diese folgt bis zur Karikatur den Frontlinien einer gespaltenen Theaterlandschaft. Der Autor von „Edmond“ ist ein reines Kind der als rechts angesehenen Privattheater; das als links geltende théâtre public schneidet ihn konsequent. Entsprechend verreißt das Linksblatt „Libération“ seine Arbeiten ausnahmslos, während der stramm rechte „Figaro“ sie ebenso konsequent in den siebten Himmel lobt; „Le Monde“ spielt mit einer Alternanz von Lob und Tadel das zentristische Zünglein an der Waage. Doch so schmerzhaft strukturelle und schauspielerische Schwächen hier und da auch ins Auge stechen mögen, die erwähnten Produktionen bieten (bis auf „Les Producteurs“) mehr als bloß bemühte Unterhaltung. Nämlich: Spannung, Überraschungen – und immer wieder Momente, in denen es einem den Hals zuschnürt. Auf Michaliks im Entstehen begriffenes sechstes Stück darf man gespannt sein. Den Titel verrät er uns schon: „Passeport“.
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