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Ein atypischer Texaner

Aktualisiert: 24. März

Wes Anderson in der Cinémathèque française – zur ersten umfassenden Werkschau des Retro-Dandys und Schöpfers amerikanischer Filme mit dezidiert europäischem Flair


Wie kleidet sich ein angehender Kult-Filmregisseur? Im Fall des jungen Wes Anderson wissen wir es ganz genau, von Fuß bis Kopf: Socken mit Rautenmuster unter roten New-Balance-Turnschuhen, ein Ledergürtel über der knöchellangen Hose, eine schwere braune Jacke über dem saisonalen Oberteil, optional eine Baseballmütze. So zu sehen auf der „Map for a young movie director“, die der jüngere Bruder 1999 gezeichnet und zum Dreißigsten des Rezipienten mit dem Glückwunsch „Happy birthday, Wesley, from Eric Chase & Mom“ versehen hat. Es ist das einzige Exponat in der Retrospektive der Cinémathèque française, der ersten dem Cineasten gewidmeten umfassenden Werkschau, das persönlichen Charakter trägt – Andersons Scheu bezüglich seines Privatlebens ist bekannt.


Wes Anderson auf dem Set von „Asteroid City“, 2023 (Bild: Roger Do Minh – Pop. 87 Productions – Focus Features via AP)
Wes Anderson auf dem Set von „Asteroid City“, 2023 (Bild: Roger Do Minh – Pop. 87 Productions – Focus Features via AP)
Eric Chase Anderson: Map for a young movie director, 1999 (Bild: zit.)
Eric Chase Anderson: Map for a young movie director, 1999 (Bild: zit.)

So fokussiert die Ausstellung ganz auf das Œu­v­re. Film um Film wird hier beleuchtet, jeweils mithilfe museumswürdiger Fotos, Zeichnungen und Gemälde, vor allem aber fantastisch phantasiereicher Filmobjekte. Zum Beispiel: krabbelndes und kraulschwimmendes Meeresgetier aus „The Life Aquatic with Steve Zissou“ (deutsch: „Die Tiefseetaucher“); die Vuitton-Koffer, die Marc Jacobs für die drei Indien per Zug bereisenden Brüder von „The Darjeeling Limited“ geschaffen hat; rund fünfzig menschliche und tierische Marionetten aus den Animationsfilmen „Fantastic Mr. Fox“ und „Isle of Dogs“; das 3 Meter hohe und 4,5 Meter lange Modell der Fassade des „Grand Budapest Hotel“, welches die Welt von gestern rosafarben verklärt; die lebensgroßen Cocktail-, Immobilien- und Munitionsautomaten (sic) aus „Asteroid City“.


Die drei Brüder (von links nach rechts: Jason Schwartzman, Owen Wilson und Adrien Brody) aus „The Darjeeling Limited“… (Bild: DR)
Die drei Brüder (von links nach rechts: Jason Schwartzman, Owen Wilson und Adrien Brody) aus „The Darjeeling Limited“… (Bild: DR)
… und ihre Koffer (Bild: zit.)
… und ihre Koffer (Bild: zit.)
Das wandfüllende Modell der Fassade des „Grand Budapest Hotel“ wurde durch das Berliner Atelier des Miniaturmodellbauers Simon Weisse angefertigt. (Bild: zit.)
Das wandfüllende Modell der Fassade des „Grand Budapest Hotel“ wurde durch das Berliner Atelier des Miniaturmodellbauers Simon Weisse angefertigt. (Bild: zit.)

Eine Ausstellung hat primär zum Zweck, Besuchern die leibhaftige Begegnung mit Exponaten zu gestatten, die jedes für sich möglichst hochkarätig sind und zum großen Ganzen geordnet möglichst aussagekräftig. Das ist hier der Fall. Zwar verzichtet der Parcours auf epochenübergreifende thematische Kapitel, doch paart er die elf Spielfilme sowie die jüngste Roald-Dahl-Tetralogie für Netflix zu sechs Zweiergruppen mit jeweils inhaltlicher Verklammerung. So werden trotz chronologischer Struktur Grundthemen herausarbeitet wie die Kollaboration mit einer „Familie“ geistesverwandter Künstler (von Schauspielern wie Bill Murray, Jason Schwartzman und Owen Wilson über den Szenenbildner Adam Stockhausen bis zum Kameramann Robert Yeoman und zur Kostümbildnerin Milena Canonero), die Hinneigung zur Alten Welt und insbesondere zum Filmland Frankreich oder die zunehmende Theatralisierung der Inszenierung.


Hinneigung zu Frankreich: „Margot, als Kind durch Richie porträtiert“, für „The Royal Tenenbaums“ durch Eric Chase Anderson gemalt, 2001 (Bild: zit.)
Hinneigung zu Frankreich: „Margot, als Kind durch Richie porträtiert“, für „The Royal Tenenbaums“ durch Eric Chase Anderson gemalt, 2001 (Bild: zit.)

Der Katalog vertieft die Schau mit teils hochinteressanten Interviews (etwa jenes mit Ralph Fiennes über die kleinen, feinen Freiheiten des Schauspielers unter der Regieführung eines detail- und präzisionsversessenen Demiurgen) sowie Essays (namentlich jener von Vincent Malausa über die gleich Matrjoschkas verschachtelten Erzähldispositive von „The Grand Budapest Hotel“ und „The French Dispatch“).


Der Filmliebhaber hat trotzdem Lust auf mehr. Da trifft es sich gut, dass gleich zwei französische Neupublikationen die Bibliografie bereichern – weder in der Muttersprache von Godard noch in jener von Hal Ashby oder von Max Ophüls (um drei Filmregisseure anzuführen, die Anderson besonders schätzt) wurde in den letzten Jahren etwas Substanzielles über den Autor von „The Royal Tenenbaums“ publiziert.


Paul Schlase, Tony Revolori, Tilda Swinton und Ralph Fiennes in „The Grand Budapest Hotel“ (Bild: 20th Century Fox – Scott Rudin Productions – Indian Paintbrush – Studio Babelsberg / DR)
Paul Schlase, Tony Revolori, Tilda Swinton und Ralph Fiennes in „The Grand Budapest Hotel“ (Bild: 20th Century Fox – Scott Rudin Productions – Indian Paintbrush – Studio Babelsberg / DR)

„Wes Anderson, la totale“ von Christophe Narbonne bietet, wie der Titel verspricht, einen wo nicht erschöpfenden, so doch sehr vollständigen Überblick über das Œu­v­re des Cineasten. Zu jedem der elf Spiel- sowie sieben Kurzfilme finden sich Besetzungsliste und technisch-finanzielle Daten sowie detaillierte Informationen zu Vorgeschichte, Cast, Dreharbeiten und Rezeption. Diese gehen noch über die Schau und deren Katalog hinaus; vor allem jedoch beleuchten eingeschobene Kapitel die Koautoren von Andersons Drehbüchern, seine Leidenschaft für Handgemacht-Analoges, seine Liebe zum Geschriebenen und namentlich zur (Qualitäts-)Presse, seine künstlerischen Einflüsse, vom Maler David Hockney über den Schriftsteller Roald Dahl bis zum Komponisten Benjamin Britten und zu poppigen, rockigen Soundtracks. Der üppig bebilderte Band, ab September auch auf Englisch greifbar, hebt sogar wichtige Motive heraus wie Festnetztelefone, Ferngläser und Brillen sowie die – stilbildende und im Film eher selten anzutreffende – Obsession für symmetrische Bildkompositionen!


Vitrine mit Kostümen und Accessoires von Max Fischer, dem Helden des high-school movie „Rushmore“ (Bild: zit.)
Vitrine mit Kostümen und Accessoires von Max Fischer, dem Helden des high-school movie „Rushmore“ (Bild: zit.)

Einen mehr wissenschaftlichen Ansatz verfolgt „Wes Anderson, cinéaste transatlantique“ von Julie Assouly. Die 300-seitige Studie fasst Andersons Werk durch das Prisma des transatlantischen Kulturaustauschs ins Auge. Für die Autorin ist der Filmschöpfer ein Erbe „neuer Wellen“ der 1960er und 1970er Jahre: Der Nouvelle Vague und wenig später des New Hollywood. Die „Amerikanität“ des atypischen Texaners sei ganz europäisch, sein raffiniert-gestriges Retro-Dandytum speise sich bei Malle und Truffaut wie bei deren Vorgängern Renoir und Vigo. Kenn-, ja Markenzeichen seien erstens eine Distanzierung, die auch Tragisches nicht aus dem Rahmen des vorherrschenden trockenen Humors fallen lasse (welchen der rasche Redefluss und die unbewegliche Miene der Darsteller oft verstärkten). Zweitens die Einschreibung der Handlung(en) in Länder und Epochen, die mehr Filmen, Dramen, Comics, Romanen und Gemälden entlehnt sind denn Geschichtsbüchern. Und drittens eine zunehmende Autoreflexivität (mit Selbstzitaten, aber auch mit der Fokussierung auf Figuren, die wie Anderson schreiben, zeichnen, inszenieren) bei gleichzeitiger Hochzüchtung des Handwerks.


Modell der Nudelbar aus „Isle of Dogs“ mit dem Hund Boss in Baseballkluft (Bild: zit.)
Modell der Nudelbar aus „Isle of Dogs“ mit dem Hund Boss in Baseballkluft (Bild: zit.)

Andersons zwölfter Spielfilm, eine Familien- und Spionagegeschichte mit Benicio del Toro und Mia Threapleton, wird demnächst die Gelegenheit bieten, diese Befunde zu verifizieren: „The Phoenician Scheme“, als deutsch-amerikanische Koproduktion im Potsdamer Studio Babelsberg gedreht, startet am 30. Mai in den USA.


Filmstill aus „Fantastic Mr. Fox“ (Bild: 20th Century Fox – American Empirical Pictures / DR)
Filmstill aus „Fantastic Mr. Fox“ (Bild: 20th Century Fox – American Empirical Pictures / DR)

 

 

Die Ausstellung „Wes Anderson“ läuft bis zum 27. Juli in der Cinémathèque française, dann vom 14. November bis zum 26. Juli 2026 im Londoner Design Museum.
 

Verwendete Literatur:
 
Wes Anderson, les archives (Katalog der Ausstellung, hrg. durch Johanna Agerman Ross, Matthieu Orléan und Lucia Savi; ab September auch auf Englisch greifbar). Design Museum Publishing, London 2025. 296 S., Euro 38.-.

Christophe Narbonne: Wes Anderson, la totale. Éditions EPA, Vanves 2024. 290 S., Euro 39,95.

Julie Assouly: Wes Anderson, cinéaste transatlantique. CNRS Éditions, Paris 2024. 344 S., Euro 25.-.

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