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Die Lebenden müssen für den Toten zahlen

marczitzmann

Aktualisiert: 22. Dez. 2024

Prozess und Urteil im Fall des enthaupteten Lehrers Samuel Paty illustrieren die Aporie der gerichtlichen Aufarbeitung des dschihadistischen Terrors


Seit dem Wiederaufflammen des dschihadistischen Terrors im März 2012 hat Frankreich mehr Gräuel erlitten als jedes andere westliche Land. Die Erschießung von Drei- bis Achtjährigen in und vor einer jüdischen Schule. Die Ermordung eines hochbetagten Priesters während der Morgenmesse. Der Versuch der Auslöschung einer ganzen Zeitungsredaktion. Das koordinierte Massaker von 130 Konzertbesuchern und Cafégästen. Das Niederstechen eines Polizistenpaars an seinem Wohnort vor den Augen des dreijährigen Sohns. Ein Halbdutzend Anschläge mit Rammbockfahrzeugen, von denen der schlimmste 86 Todesopfer gefordert hat. Die Liste enthält noch vierzig weitere Attacken; viele von ihnen sind selbst in Frankreich in Vergessenheit geraten.


Ins Gedächtnis eingebrannt hat sich die Enthauptung von Samuel Paty vor einer Sekundarschule nordwestlich von Paris am 16. Oktober 2020. Es handelte sich um das erste (und leider nicht letzte) Mal, dass hierzulande ein Lehrer wegen seiner Lehrtätigkeit ermordet wurde. Der Prozess gegen acht Angeklagte mit – zum Teil sehr loser – Verbindung zu Patys Mörder, der heute Abend am Pariser Sonderschwurgericht zu Ende gegangen ist, illustrierte einmal mehr die Aporie der gerichtlichen Aufarbeitung solcher Fälle. Die Gotteskrieger von eigenen Gnaden sind fast immer unter den Kugeln der Ordnungskräfte gefallen, auf der Anklagebank sitzen bestenfalls Handlanger, schlimmstenfalls Mitgefangene, deren Mittäterschaft auch beim dritten Hinschauen nicht ins Auge sticht. Es ist bezeichnend, dass der Prozess zur Anschlagserie vom Januar 2015 (Stichwort „Charlie Hebdo“) vor vier Jahren in über der Hälfte der Fälle mit der Aufgabe der Einstufung der verfolgten Taten als „Terrorismus“ endete und mit Strafen, die mehrheitlich unter dem geforderten Maß lagen. Ziel sei nicht, so damals die zuständige Staatsanwältin, „die Lebenden für die Toten büßen zu lassen“ – ein Vorsatz, der besagtem Verfahren zur Ehre gereichte.


Ein Porträt von Samuel Paty in dem heute nach ihm benannten Collège von Conflans-Sainte-Honorine (Bild: flickr)

Im Fall Paty standen drei Kategorien von Angeklagten vor Gericht. Mit abnehmender Schwere: die „Logistiker“, zwei Freunde des Mörders, die diesem bei der Waffensuche geholfen und/oder ihn zum Tatort gefahren hatten. Die „Denunzianten“, der Vater einer Schülerin Patys sowie ein islamistischer Agitator, die den Lehrer in den asozialen Netzwerken als „Gotteslästerer“ angeprangert hatten. Endlich die „Couchkrieger“, vier Exponenten der „Dschihadosphäre“, die den künftigen Henker via Snapchat in seiner radikalen Einstellung bestärkt hatten.


Jede dieser Kategorien lieferte Beispiele für die Komplexität, oft auch Widersprüchlichkeit des menschlichen Denkens und Handelns. Unter dem unerbittlichen Vergrößerungsglas der Justiz zerfaserte das absolut Böse, wie es die Enthauptung eines – im vorliegenden Fall absolut vorbildlichen: sachkundigen, engagierten, allen Religionen und Kulturen zugetanen – Schullehrers darstellt, in eine fatale Summe individueller Handlungsmotive, die jedes für sich genommen oft weniger verbrecherisch anmuten denn allzumenschlich.


Am Anfang stand so eine gemeine Lüge. Eine dreizehnjährige Schülerin, wegen schlechten Verhaltens von der Schule verwiesen, machte ihren Vater glauben, sie habe ihrem Geographie- und Geschichtslehrer, Samuel Paty, Paroli geboten, als dieser seine muslimischen Schüler aus dem Klassenzimmer schicken wollte, um den restlichen eine Auswahl der berühmt-berüchtigten Mohammed-Karikaturen zu zeigen – dies der Grund für ihren Schulausschluss. An dieser Mär hielt das Mädchen, das an der betreffenden Unterrichtsstunde gar nicht teilgenommen hatte, noch Wochen nach der Mordtat fest, verrannt im Labyrinth wiederholter Falschaussagen. Der Vater, Wut mit Schaum, verlangte von der Schulleitung sogleich die Entlassung des „kranken Schurken“ und doppelte im Netz nach mit anklägerischen Botschaften und Videos. So wurde der künftige Mörder, der 80 Kilometer weiter westlich wohnte, auf Paty aufmerksam. Vor Gericht betonte der Vater, er habe die Diskriminierung seiner Tochter ahnden wollen – doch in seinen WhatsApp-Botschaften und Facebook-Filmchen stand klar die Lästerung des Propheten im Vordergrund. Freilich: Dieser Angeklagte ist mitnichten ein rasender Radikaler – vielmehr ein moderater Muslim, gluckenhafter Familienvater und Gründer einer Hilfsvereinigung für Behinderte, der Vertreter aller Konfessionen zu seinen Freunden zählte.


Der Ort, an dem Paty ermordet wurde (Bild: flickr)

Ein echter Radikaler hatte sich ihm indes nach der ersten WhatsApp-Botschaft an die Fersen geheftet: Der zweite „Denunziant“ ist ein mit allen Wassern gewaschener islamistischer Agitator, der – immer hart am Rande der Legalität – seit Jahrzehnten sein Gift gegen „die Juden“ versprüht, gegen „verirrte Muslime“ und gegen den französischen Staat, der rechtgläubige Anhänger des Propheten diskriminiere. Doch auch hier ist der Fall komplexer, als es scheint: Der weißhaarige Aktivist rief nie explizit dazu auf, sich an Paty zu vergreifen, geschweige denn, ihn zu ermorden – und das Video des Aufwieglers hatte der Mörder, wie’s scheint, gar nicht gesehen. So stellte sich für beide „Denunzianten“ die Frage nach der Intention, nach ihrer Kenntnis und bewussten Mobilisierung des Kontexts: „Charlie Hebdo“ hatte kurz zuvor erneut Mohammed-Karikaturen veröffentlicht, was Islamisten nach „Vergeltung“ geifern ließ. Wie auch des Subtexts: mit dem Gebrauch von für Fundamentalisten klar lästerlich konnotierten Begriffen, um gegen Paty zu hetzen – etwa „voyou“: „regelloser Schurke, den es handfest in die Schranken zu weisen gilt“.


Noch weniger klar liegt der Fall der beiden „Logistiker“: Freunde des Mörders, einer von ihnen mit tschetschenischem Familienhintergrund wie dieser, aber beide im Gegensatz zum wurzellosen Wüterich gut integriert und frei von Fanatismus. Ihre Erklärungen zu den Handlungen, die ihnen zur Last gelegt wurden? Sie hätten den künftigen Mörder beim Kauf einer Feuerwaffe (am Ende fanden sie bloß Softairpistolen) und eines Messers begleitet, weil dieser ihnen erklärt hatte, er brauche erstere zur Verteidigung gegen „Schwarze“ und letzteres als Geschenk für seinen Großvater. Im Kontext der vorstädtischen Bandenkriege beziehungsweise der tschetschenischen Verherrlichung alles Stählernen tönte beides nicht unplausibel. Auch hier also die Frage: Wussten die beiden um das Attentatsvorhaben oder hätten sie – die Gesinnung des künftigen Täters war allen bekannt – die Möglichkeit eines solchen zumindest erwägen müssen?


Der Fall der vier angeklagten „Couchkrieger“ endlich illustrierte das Problem, die Wirkung von Worten einzuschätzen und den Cursor am richtigen Ort zu positionieren auf dem Kontinuum, das von der verbalen Bejahung des Dschihadismus bis zur Enthauptung eines wehrlosen Unschuldigen reicht. Die vier kannten den künftigen Mörder nicht persönlich und wussten nichts von seinem blutigen Vorhaben, sie hatten lediglich – wenn man so sagen kann – in einer Snapchat-Gruppe mit ihm Worte der Verblendung und des Fanatismus ausgetauscht. Hatten sie dadurch sein blutiges Vorhaben bestärkt, waren sie – ideologisch – an Patys Ermordung beteiligt?


Patys Mutter und eine seiner Schwestern im Pariser Justizpalast (Bild: flickr)

Die fünf Richter des Pariser Sonderschwurgerichts haben entschieden: Die beiden „Logistiker“ kommen für jeweils 16 Jahre hinter Gitter, der Agitator für 15 Jahre, der Vater für deren 13. Damit liegen die Gefängnisstrafen von drei der vier Hauptangeklagten um zwei bis drei Jahre über dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Maß. Die Lebenden müssen für den toten Terroristen zahlen.

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