Seit zwanzig Jahren erstellt die Radiosendung „Les Pieds sur terre“ auf France Culture eine impressionistische, besser: eine surrealistische Kartographie des „Frankreichs der Unbekannten“
Liebesnöte und Geldsorgen. Alltagsfreuden und Schicksalsschläge. Ureigenes und allen Menschen Gemeines. Es ist nicht unbedingt auf France Culture, dass man zu hören erwartet, wie Unbekannte über ihr Leben sprechen und dabei Persönliches preisgeben. Der Kultursender von Radio France ist ein Nischenprodukt, mit einer Einschaltquote von drei Prozent (langfristige Tendenz: steil steigend) und einem Fokus auf Qualität (langfristige Tendenz: sanft sinkend). Dass gerade der Kanal der großstädtischen Intelligenzija – in Paris erreicht France Culture eine Einschaltquote von über zehn Prozent – jeden Wochentag zur besten Sendezeit seine Mikrofone eine halbe Stunde lang für „einfache Menschen“ öffnet, für „gewöhnliche Leute“, „Durchschnittsbürger“ oder welch unzutreffende Bezeichnung man auch immer wählen mag, ist die Folge eines politischen Bebens.
Am 21. April 2002 qualifizierte sich Jean-Marie Le Pen – namentlich dank starkem Stimmenzulauf aus den unterprivilegierten Bevölkerungsschichten – für die Stichrunde der französischen Präsidentschaftswahlen. Niemand hatte erwartet, dass der Gründer des rechtsextremen Front national (heute: Rassemblement national) seine besten Umfragewerte um fast drei Prozent übertreffen würde. „Plötzlich nahm das ‚Frankreich von oben‘ das ‚Frankreich von unten‘ wahr“, führt die Produzentin Sonia Kronlund bei einer Tasse Weihnachtstee in ihrer schwedisch heimeligen Wohnung am Montmartre-Friedhof aus (der Begriff „France d’en bas“ fand im Gefolge des April-Bebens weite Verbreitung). „Auch die Direktion von France Culture fragte sich, wer diese obskuren ‚kleinen Leute‘ waren, die für Le Pen gestimmt hatten. So erhielt ich innert fünf Minuten grünes Licht für mein Vorhaben, Unbekannten großzügig die Sendezeit zu gewähren, die ihnen die etablierten Medien sonst nur knauserig zugestanden“. Am 2. September 2002 wurde „Les Pieds sur terre“ erstmals ausgestrahlt, seitdem sind fast 3400 Beiträge entstanden. Diese lassen beileibe nicht nur Le-Pen-Wähler zu Wort kommen, sondern Menschen mit den unterschiedlichsten Ansichten, Hintergründen und Profilen. Gemein ist ihnen, dass sie in medialer Hinsicht unbeschriebene Blätter sind – eine Handvoll Ausnahmen bestätigen die Regel.
In den ersten Jahren gab "Les Pieds sur terre" fast ausschließlich Vertreterinnen und Vertretern des "Frankreichs von unten" eine Stimme. Man lauschte da Lumpensammlern, Kleptomaninnen, Gefängniswärtern, Callcenteragentinnen und Handlungsreisenden für Alkoholhersteller; begleitete Vater, Mutter und kiffenden Sohn zur Suchtmedizinerin; folgte Banlieue-Schülern auf der Klassenreise nach Auschwitz-Birkenau und minderjährigen Straßenjungen aus Afghanistan bei der Suche nach einem Schlafplatz in Paris. Zwei Kernsujets waren – und sind bis heute – Arbeitskämpfe und Prostitution. Letzterer Themenkomplex veranschaulicht die Vielfalt der Ansätze: Neben schillernden Hetären wurden auch Escortherren befragt, chinesische Sexarbeiterinnen in Belleville, ein Zwischenhändler, der Stricherinnen mit Kondomen und anderen Hygieneprodukten belieferte, ein reuiger Neunzehnjähriger, der aus Geldgier und Gedankenlosigkeit Zuhälter geworden war.
Auch vor 2002 hatten sich Radiosendungen schon vereinzelt für Vertreter des „Frankreichs von unten“ interessiert. Doch deren kurze O-Töne bildeten meist bloß den Ausgangsstoff für lange Analysen von Soziologen, Psychologen und anderen „Wissenden“. „Les Pieds sur terre“ hingegen verzichtet konsequent auf Kommentare und schneidet selbst die Fragen der Interviewer fast stets heraus. Einzig ein pointierter, gut dokumentierter Vorspann mit Zahlen, Zeitangaben und Zitaten aus Zeitungen und anderen institutionellen Quellen stellt die nachfolgenden ungefilterten Worte in einen breiteren Kontext. Dieser Prolog wird jeweils durch Kronlund verfasst und mit der Stimme einer idealen Dozentin vorgelesen, die den ganzen Hörsaal in ihren Bann schlägt.
In jenen Anfangsjahren wurde „Les Pieds sur terre“ bisweilen dafür bespöttelt, das Elend der Welt in Hörform zu fassen – eine Anspielung auf den Titel des berühmten Interviewbands von Pierre Bourdieu über Formen des alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Zwar fand sich auch damals schon Erheiterndes – etwa ein Beitrag über eine pensionierte Provinzlerin, die im Rahmen eines Kunstprojekts einen „Hauskünstler“ empfangen hatte und mit rollendem „R“ sowie alerter Miesepetrigkeit die fotografischen Früchte seines Besuchs durch den Kakao zog. Aber Kronlund gibt selbst zu, dass es manchmal ganze Wochen gab, die zwischen Missbrauchsopfern, ermordeten Mädchen und in Massen entlassenen Metallarbeitern in Trübnis versanken.
Seither ist die Palette nicht nur heller, sondern auch breiter geworden. „Les Pieds sur terre“ lässt nunmehr auch Großbürger, Schlossherrinnen, Unternehmenschefs und Elitestudenten zu Wort kommen. Vom „Frankreich von unten“ hat sich der Fokus auf das Frankreich der Unbekannten geweitet, ganz gleich, wie "hoch" oder "niedrig" diese gestellt sind. Gelegentlich ergreifen die Autoren der Beiträge, hochmotivierte, unterbezahlte freie Mitarbeiter, auch selbst das Wort, in drei-, zehn- oder vierundzwanzigteiligen Serien: Clément Baudet legt das tönende Tagebuch eines Samenspenders vor, Adila Bennedjaï-Zou lässt einen an der Suche nach dem oder den Mördern ihres 1975 erdrosselten Vaters teilnehmen, Inès Léraud macht die Zuhörer zu Zeugen ihrer Investigationen über die bretonische Agrarindustrie. Umweltschutz ist, noch vor #MeToo und dem Raubbau an Frankreichs Gesundheitssystem, eines der neuen Kernthemen der in Form von Podcasts monatlich weit über vier Millionen Mal heruntergeladenen Sendung – gern auch mit „konstruktiven“ Beiträgen über erfüllte Ökobauern, stolze Whistleblower, Naturkinder und neue Robinsons. Auch in narrativer Hinsicht hat sich „Les Pieds sur terre“ weiterentwickelt: Statt beschreibender Bestandsaufnahmen findet man heute „gute Geschichten mit Bezug zu sozialen oder politischen Fragen, die die Zuhörer betreffen und berühren“, so Kronlund. Erklärtes Vorbild ist der Podcast „This American Life“ von Ira Glass.
„Les Pieds sur terre“ kann als linksprogressiv engagiert bezeichnet werden. Man findet darin Klassenkämpferisches – die Gelbwestenbewegung wurde und wird ebenso erschöpfend wie erfindungsreich abgedeckt –, Feministisches, Schwulenfreundliches und Antirassistisches, dazu nuancierte Plädoyers für künstliche Befruchtung oder Sterbehilfe. Dass sich, so Kronlund, nie je ein Politiker über die durch einen Staatssender produzierte Sendung beschwert hat, liegt vermutlich auch daran, dass Überzeugungen darin nicht propagiert, sondern bloß suggeriert werden. Zwischen den Zeilen, zwischen den Worten der Interviewten kristallisiert sich von Beitrag zu Beitrag die Einsicht heraus, dass es in Frankreich Herrscher und Unterdrückte gibt, Kostenkiller und Prekäre, Schläger und Hörige. Ein Beitrag wie „Ginette et Loulou“ veranschaulicht die ganze Komplexität, um die sich „Les Pieds sur terre“ bemüht. Eine herzige Rentnerin geht da auf einem Provinzmarkt einkaufen, ein lebensfrohes Lächeln auf den Lippen – bevor die Stimmung bei der Erwähnung des Algerienkriegs brutal umkippt und Ginette sich in einen quasi völkermörderischen Furor hineinsteigert: „Die da“ müsste man alle im Meer ersäufen oder auf dem elektrischen Stuhl frittieren, „die da“ würde Le Pen samt und sonders töten, käme er an die Macht…
Doch „Les Pieds sur terre“ besitzt noch eine weitere, kapitale Dimension. Die Sendung quillt über von dem, was die Surrealisten das „Wunderbare im Alltäglichen“ nannten. Auch in düsteren Beiträgen blitzt oft etwas Fremdartig-Verzaubertes auf: Ein Rapper reitet durch die betonierte Banlieue; ein körperbehindertes Mädchen lernt dank einer Schnecke gehen; ein Vogelstimmen-Imitator gesteht halblaut sein Sehnen, mit einem Menschenweibchen ein Nest zu bauen. Hält man das Mikrofon nah hin, bleibt still und hört geduldig zu, entpuppen sich auch einfache Menschen als Wunderwesen, gewöhnliche Leute als verkappte Genies und Durchschnittsbürger als Unika.
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