Bitterböse Liberalismuskritik, Minne-und-Degen-Schinken, seltsame Anthologie von Kinowochenschauen – Eindrücke von der 30. Ausgabe des „Étrange Festival“ in Paris
Stichprobe im Programm der 30. Ausgabe des „Étrange Festival“ am Pariser Forum des images. In drei aufeinanderfolgenden Vorstellungen waren am 12. September erst ein neuer Spielfilm zu sehen, dann die letzte Episode einer vierteiligen Fernsehserie von 1973, endlich eine Montage von Archivaufnahmen der Gaumont, des ältesten noch heute tätigen Filmproduktionsunternehmens der Welt. Neues und Altes, Hochkunst und Kleinkram, Leinwand und Flimmerkiste – die Stichprobe war repräsentativ für ein Festival, das die Seltsamkeit bereits im Namen trägt.
Mit „Veni Vidi Vici“ von Daniel Hoesl und Julia Niemann stand zunächst eine formal bildschöne und inhaltlich bitterböse Kritik des Ultraliberalismus‘ auf dem Programm, deren häufig lange und ferne Einstellungen auf die Bilderwelt des Produzenten Ulrich Seidl verweisen. Hauptfigur ist ein „Austrian Psycho“, der Milliardenprojekte stemmt, Minister und Medienchefinnen korrumpiert – und zwecks Stressabbau gern im Grünen Menschen jagt. Ein Forstbeamter und ein Journalist wollen den Serien-Scharfschützen zur Strecke bringen – doch die Gesellschaft verschließt lieber die Augen, als dass sie eine ihrer sogenannten Stützen verlöre.
Ein Kuriosum bildete sodann die letzte Episode der französischen Miniserie „La Duchesse d‘Avila“ des kaum bekannten Philippe Ducrest frei nach Jan Graf Potockis Roman „Die Handschrift von Saragossa“. Der Minne-und-Degen-Schinken mit preziösen Dialogen und manieristischer Kameraführung in historisierend-halluzinatorischen Dekors und Kostümen (über)spannt einen Bogen vom Höfischen Roman zum esoterischen Oeuvre eines Alejandro Jodorowsky.
Ebenso faszinierend wie stimulierend endlich Sylvain Perrets „étrange anthologie“ von Exzerpten aus Kinowochenschauen der Gaumont. Man bestaunt da Champions des Auf-der-Stelle-Radelns, verheiratete Kinderpuppen, Kreuzritter wider den Voodoo, fernöstliche Exorzisten, boxende Braunbären, Hühner im Pyjama, dreibeinige Stuten und stierische Einhörner, nicht zu vergessen einen schauderhaft schielenden Hypnotiseur und schräge Schöpfer wie Salvador Dalí, dessen künstlerische Kooperationen mit malenden Seeigeln, fliegenden Sardinen oder Freud’schen Langusten noch immer das Zwerchfell zum Beben bringen.
Gegründet wurde „L’Étrange Festival“ 1993 durch eine Gruppe von Liebhabern des „cinéma de genre“ um Frédéric Temps, der die Veranstaltung bis heute leitet. Für „Genrekino“ finden sich in einem 320-seitigen Band, der aus Anlass des Festivaljubiläums soeben veröffentlicht wurde, Synonyme wie „Undergroundkino“, „randständiges Kino“ („cinéma des marges“), ja „abweichendes [um nicht zu sagen: abartiges] Kino“ („cinéma déviant“). Die Spannbreite ist weit, reicht von Porno- und Horrorstreifen über Fantastisches, Feministisches und Queeres bis hin zu experimentellen Kurz- und Animationsfilmen. Mainstream und klassischer Kanon werden hier eher nicht bedient, Ausnahmen wie Bong Joon-hos dystopischer Blockbuster „Snowpiercer“ oder gelegentlich gezeigte Ikonen der Stummfilmzeit bestätigen die Regel. Mehr als ohnehin disparate Genres verklammert das Festival ein (Un-)Geist – jener der Wanderzirkusse von einst mit ihren Clown- und Akrobatennummern, ihren Geisterbahnfahrten und Freakshows.
Setzten die frühen Ausgaben auf thematische Nächte mit Titeln wie „Satan Superstar“, „Die Kannibalen“, „Bestialische Liebe“ oder „Folterkammer“ (aber auch „Dalícinéma“, „Sushi Typhoon“ und „Supermegabloodybunnyapocalypticaturbozombinight!“), so mehrten sich später die Hommagen und „Cartes blanches“, das heißt die gerafften Werkschauen und Einladungen an Regisseure, fremde Filme vorzustellen. Zu den Schöpfern, deren Werk das „Étrange Festival“ ausgeleuchtet hat, zählen Lucile Hadzihalilovic, Álex de la Iglesia, Alejandro Jodorowsky, Bruce LaBruce, Guy Maddin, Gaspar Noé, die Quay-Brüder, Nicolas Winding Refn und sehr viele Cineasten aus Fernost, unter ihnen Shohei Imamura (der in Europa bekannt ist, aber nur mit zwei Titeln), Sono Sion und Shuji Terayama. Ein für das seltsame Festival absolut repräsentativer Abend sah 2012 bei der untertitellosen Ausstrahlung von „Die drei türkischen Supermänner bei den Olympischen Spielen“ in der Sprache von Pamuk und Erdoğan eine Simultanübersetzerin die wirre Handlung zu resümieren versuchen, derweil der niederländische Regisseur Jan Kounen, der den Streifen ausgewählt hatte, vom Saal aus mitkommentierte – ein polyglottes Happening. Im selben Jahr begleitete Kenneth Anger eine Montage eigener Werke musikalisch – mit Sphärensirenengesängen vom Theremin!
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