top of page

Übervater oder Mafiapate?

marczitzmann
Zur Lancierung des Programms „Boulez 2025“, das des vor hundert Jahren geborenen Komponisten, Dirigenten und Reorganisators des französischen Musiklebens gedenkt


Der Memoirenschreiber Saint-Simon, der Maler Greuze, der Architekt Garnier, der Schriftsteller und Filmemacher Claude Lanzmann zählen zu Frankreichs großen Männern (und sehr wenigen Frauen), deren Name anlässlich eines runden Geburts- oder Todestags auf der Liste der diesjährigen „commémorations nationales“ steht. Doch nur einem der vier Dutzend Gedenkwürdigen des Jahrs 2025 widmet das Kulturministerium schon jetzt ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm, das am 6. Januar bei einer Pressekonferenz in Paris enthüllt wurde. Pierre Boulez, geboren am 26. März 1925, sieht sich mit Konzerten, Ausstellungen, Kolloquien und Buchpublikationen bedacht, die sein Wirken als Komponist, Dirigent und Reorganisator des französischen Musiklebens feiern.


Den Auftakt bilden elf Konzerte bis Anfang Februar in Paris und Lyon mit hochkarätigen Solisten, Ensembles und Orchestern, mit denen Boulez zusammengearbeitet hat oder die mit seinem Oeuvre vertraut sind: Das Ensemble intercontemporain, das Orchestre de Paris sowie das Orchestre national de France, aber auch der 2003 gegründete Klangkörper Les Siècles, der Musik des 17. bis 21. Jahrhunderts auf jeweils „originalen“ Instrumenten spielt, das Arditti-Quartett, der Pianist Pierre-Laurent Aimard sowie das London Symphony Orchestra unter Simon Rattle. Die Programme verbinden meist Kompositionen von Boulez mit Werken aus dem „Kanon der Moderne“, den der Dirigent pflegte: Arbeiten von Bartók, Berg, Debussy und Ravel. Mit Spannung erwartet werden zwanzig Auftragswerke, darunter Hommagen von Philippe Manoury und von Olga Neuwirth.


Das eigentliche Geburtstagskonzert am 26. März nimmt dann in der Philharmonie de Paris die Form eines durch Benjamin Millepied choreografierten Tanzrituals zu Werken von Bartók, Strawinsky und Boulez („Rituel in memoriam Bruno Maderna“) an; das Orchestre de Paris spielt unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen. Am selben Tag finden auch im Wiener Musikverein und im Festspielhaus Baden-Baden Gedenkfeiern statt – die Kur- und Kunststadt war 56 Jahre lang Boulez‘ Zweit-, zeitweise auch Hauptwohnort.


Der internationale Teil des Programms „Boulez 2025“ führt Konzerte in Chicago, Gent, Helsinki, Moskau, Québec, Tokyo und vielen weiteren (namentlich deutschen) Städten auf. Von besonderem Interesse ist in New York die „Reprise“ eines eklektischen, von Bach über Schubert bis zu Strawinsky, Webern und Boulez selbst führenden Programms, das der Franzose als Chefdirigent des New York Philharmonic daselbst 1975 gegeben hatte – eine Ausstellung in der David Geffen Hall erinnert bis Ende Mai an diese Zusammenarbeit. Skepsis ruft dagegen das Ansinnen des International Contemporary Ensembles hervor, in derselben Stadt ein Konzert mit einer „kollektiven Improvisation“ zu Boulez’ Ehren zu beenden. Derlei Unternehmen gehen gern schauderhaft schief, gerade bei einem Komponisten wie diesem, der selbst den Improvisationsspielraum, den er in Werken wie der Dritten Klaviersonate oder dem Ensemblestück „Éclat-Multiples“ den Interpreten zumaß, präzise auskomponiert hat.


Später im Jahr stehen dann die Pfingstfestspiele Baden-Baden, aber auch das kleine, feine Festival, das Boulez‘ Lehrer Messiaen in den französischen Alpen gewidmet ist, unter dem Zeichen des Jubilars. Erklingen werden in einigen der Konzerte auch unveröffentlichte frühe Klavierwerke sowie die zurückgezogenen Kompositionen „Polyphonie X“ (für 18 Instrumente, 1951) und „Poésie pour pouvoir“ (für drei Orchester und Elektronik, 1958). Die aus Anlass des Boulez-Gedenkjahrs durch Philippe Manoury und Martin Grabow gewagte Fertigstellung der unvollendet hinterlassenen Orchesterfassung der „Notation VIII“ soll ihrerseits erst 2027 aus der Taufe gehoben werden. Kolloquien an der Philharmonie de Paris, dem Collège de France und – gemeinsam – den Universitäten von Fribourg und von Saint-Étienne sowie die Veröffentlichung eines illustrierten Werkkatalogs runden das durch Laurent Bayle kuratierte Programm ab.


Als Leiter des Gegenwartsmusikfestivals Musica in Straßburg, des hauptstädtischen Ircam, der Cité de la musique und der Philharmonie de Paris zwischen 1982 und 2021 war Bayle einer der engsten Vertrauten von Boulez. Sein Büchlein „Pierre Boulez, aujourd‘hui“, am 2. Januar veröffentlicht, ist schon aus diesem Grund von hohem Interesse. Der Autor versucht darin, „Fragmente eines vielförmigen, fließenden Ganzen zu fassen“. Weder Lebensgeschichte – eine (leider noch nicht auf Deutsch übersetzte) Standardbiografie hat Christian Merlin 2019 vorgelegt – noch Lebenserinnerungen – seine eigenen Memoiren hat Bayle 2022 publiziert –, verflicht der Band Anekdoten und Aperçus mit einem biografischen Abriss und einem in Facetten aufgesprengten Künstlerporträt. Boulez erscheint hier als ein Vielleser, von Montaigne bis Genet, der sich Texte von Mallarmé, Henri Michaux, E. E. Cummings, vor allem René Char anverwandelte. Er erscheint als ein Liebhaber weder völlig figurativer noch restlos abstrakter Malerei: André Masson und Joan Miró schufen für ihn Schallplattencover, erfährt man. Und er erscheint als ein seit seinen frühen Jahren als „Schauspielmusikdirektor“ der Compagnie Renaud-Barrault neugieriger Theaterbesucher (Botho Strauss und Peter Handke fungierten unter seinen „Entdeckungen“, liest man überrascht), der weder mit Genet noch mit Beckett, Koltès, Edward Bond oder Heiner Müller seinen Traum vom Musiktheater verwirklichen konnte.


Boulez‘ Statur als Komponist und als Dirigent ist weitgehend unbestritten. Deutsche Grammophon hat soeben die Box „The conductor“ mit 84 CDs wiederaufgelegt, im Februar folgt „The composer“ mit 13 CDs nach. Das erneute Anhören dieser vielfach ausgezeichneten Aufnahmen bestätigt, dass nach der raubeinigen Frühphase ab „Le Marteau sans maître“ (1952 bis 1955) sich klangsinnliches Wunderwerk an rhythmisch vibrierendes Zauberstück reiht; und dass Boulez als Interpret mit Bruckner, Skrjabin, Richard Strauss und auch mancher Mahler-Symphonie Mühe haben mochte, aber im Bereich der Moderne und der „klassisch gewordenen Gegenwartsmusik“ von Schönberg bis Ferneyhough häufig Maßstäbe gesetzt hat.


In Schutz nehmen möchte Bayle hingegen den öffentlichen Menschen, der Institutionen gründete und Machtposten besetzte. Das hat ihm den Ruch des „Paten“ eines verfilzten Netzes musikpolitischer Seilschaften eingebracht. Warum, ist nicht ersichtlich. Das Ircam, das Ensemble intercontemporain, die Cité de la musique und die Philharmonie de Paris, die er (mit)konzipiert hat, florieren – zum Wohl des Landes. Frankreichs Musikwelt hat Boulez einen markanten Qualitätsschub zu verdanken, auch wenn Institutionen wie die beiden Pariser Opernhäuser, das Orchestre national du Capitole de Toulouse oder die zahlreichen Originalklangensembles des Landes ohne sein Dazutun aufgeblüht sind.


Macht und Ehren hat Boulez nie als Selbstzweck gesucht. Noch in seinem neunten Lebensjahrzehnt lernte er für Auftritte mit dem Ensemble intercontemporain neue Partituren und unterrichtete an der Lucerne Festival Academy – dabei hätte er jeden Abend in Wien, Berlin, Chicago oder Cleveland vielhunderthändigen Beifall einkassieren können. Aber der Mann galt als kalt und kopflastig, als hart und aggressiv, als dogmatisch, ja sektiererisch – wo doch Zeugnisse sonder Zahl von seiner Offenheit und Empathie (etwa gegenüber angegriffenen Mitschöpfern wie Patrice Chéreau, Pina Bausch und Christoph Schlingensief) vorliegen; und wo die Schriften der Reifezeit von Begriffen wie „Hysterie“, „Sehender“ und „Verzauberung“ strotzen. Pierre Boulez – am Ende gar ein verkappter Sensualist, heidnischer Mystiker und treuer Herzensmensch?

 

 


Die zweisprachige Website pierreboulez.org führt alle Veranstaltungen des Programms „Boulez 2025“ auf und enthält neben einem detaillierten Lebenslauf und einem nicht minder informationsreichen Werkkatalog auch fesselndes audiovisuelles Archivmaterial.
 
Verwendete Literatur:

Christian Merlin: Pierre Boulez. Fayard, Paris 2019. 618 S., Euro 36.-.
Laurent Bayle: Pierre Boulez, aujourd’hui. Éditions Odile Jacob, Paris 2025. 144 S., Euro 18,90.

 

32 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


Melden Sie sich an, um über neue Beiträge informiert zu werden

Danke für Ihre Anmeldung!

© 2022 für Leben wie zit. in Frankreich. Mit Wix.com geschaffen.

bottom of page