Eine Webserie über das Schloss von Versailles zur Zeit der Nazibesetzung
Mit seiner vierteiligen Webserie „Versailles occupé“ beleuchtet das Schloss von Versailles Episoden der deutsch-französischen Geschichte, deren Zeitrahmen weit über die gut vierjährige Besetzung während des Zweiten Weltkriegs hinausreicht. Schon während des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 war die ehemalige Königsstadt durch die Truppen einer Koalition deutscher Staaten unter preußischem Banner besetzt worden. Im Spiegelsaal des Schlosses proklamierten die Sieger am 18. Januar 1871 die Gründung des Deutschen Reichs und die Erhebung des Preußenkönigs Wilhelm I. zum Kaiser. Ein zweites geschichtsträchtiges Ereignis war am selben Ort die Unterzeichnung des Vertrags von Versailles am 28. Juni 1919. Dieser beendete auf völkerrechtlicher Ebene den Ersten Weltkrieg; seine harschen Bestimmungen gegenüber dem Kriegsverlierer, aber auch seine propagandistische Verzerrung zum „Diktat von Versailles“ bereiteten der Machtergreifung der Nationalsozialisten den Weg.
Diese führten Europa bald an den Rand eines neuen Kriegs. Während der Sudetenkrise 1938 verriet Frankreich seinen tschechoslowakischen Bündnispartner und zwang ihn – zusammen mit Großbritannien und Italien – im „Münchner Diktat“ zur Abtretung des sogenannten Sudentenlands an Hitlerdeutschland. Bis zum Abschluss dieses Abkommens am 30. September 1938 schien ein neuer bewaffneter Konflikt unausweichlich. So erstellten die Verantwortlichen des Schlosses eine Liste von tausend prioritär und doppelt so vielen in zweiter Instanz zu evakuierenden Kunstwerken. Doch mangels materiellen und personellen Mitteln blieben diese vor Ort.
Der Aufschub dauerte weniger als ein Jahr. Am 1. September 1939 fiel das Dritte Reich über Polen her, zwei Tage später erklärten Frankreich und Großbritannien dem Aggressor den Krieg. Im Park von Versailles wurden Schützengräben ausgehoben, Statuen in Kisten abtransportiert, andere, zu voluminöse, mit Sandsäcken zugedeckt. Über den Figuren des berühmten Apollo-Wagens im Mittelpunkt des gleichnamigen Beckens errichtete man einen Schutzbau aus Ziegeln und Stahlbeton. Der Grand Canal und alle Becken wurden geleert, um der Luftwaffe nicht als Landmarken zu dienen. Behelfsmäßige Luftschutzbunker, etwa in der Grotte eines Bosketts, sollten bei Bombardierungen das nach der Mobilmachung noch verbliebene spärliche Personal schützen. Im Innern montierte man alle Täfelungen und Bronzedekors ab und vermauerte die Rundbogeneingänge des Spiegelsaals, um im Brandfall die Propagation des Feuers zu verhindern. Viele Werke kamen, sorgfältig eingepackt, in die gewölbte Orangerie; die wertvollsten transportierte man in entlegenere Schlösser und Abteien ab. Ein erster Konvoi kurz vor Kriegsausbruch enthielt so das Portrait von Chateaubriand durch Girodet, Davids „Bonaparte beim Überschreiten der Alpen“, Vigée Le Bruns Portrait von Marie-Antoinette mit einer Rose, Kommoden aus den Gemächern des Königs und der Königin und vieles mehr.
Mit der Massenflucht der Zivilbevölkerung vor den rasch heranrückenden Nazitruppen leerte sich Versailles im späten Frühjahr 1940 zusehends. Mitte Juni war die Stadt fast menschenleer; das Schloss bewachten nur noch vier Angestellte. Am Morgen des 14. Juni explodierte das Pulvermagazin des Militärlagers im benachbarten Satory: Frankreichs Armee vernichtete auf dem Rückzug ihre Munitionsdepots. Bald rollte ein erster deutscher Panzer über die Avenue de Paris auf das Schloss zu. Gegen Mittag wurden zwei Soldaten am Tor vorstellig: Sie seien keine Barbaren, radebrechten sie auf Französisch, man habe nichts von ihnen zu befürchten.
Die Anfänge der Besetzung waren dennoch mühsam. Oftmals sehr junge Wehrmachtsangehörige strollten durch das Schloss, ließen sich durch Kameraden fotografieren und brachen auf der Suche nach dem Spiegelsaal Schlösser auf. Victorien Cessac, der dienstälteste Wächter, wurde gezwungen, die Trikolore durch die Hakenkreuzfahne zu ersetzen. In seinem Tagebuch jubilierte Joseph Goebbels: „Über Versailles weht die deutsche Flagge. Triumph! Das Herz schlägt höher bei diesem Vorgang. Dafür haben wir 21 Jahre gekämpft. Gloria, Victoria!“ Der Propagandaminister zählte neben Reichsmarschall Göring und Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffman zur Kohorte der Besucher des – zunächst ausschließlich für Vertreter der Besetzungsmacht – wiedereröffneten Schlosses.
Mit der deutschen Disziplin war es nicht weit her: Es gab Diebstähle und Beschädigungen, ein Gemälde, das den Krieg von 1870/71 evoziert, wurde in einer Ecke zerschnitten aufgefunden, die Kommandantur musste „schwerste Strafen“ androhen. Kunsthistoriker beider Nationen spannten im Interesse des Kulturerbes zusammen: So setzte der Leiter des deutschen Kunstschutzes in Frankreich, Franz Wolff-Metternich, zusammen mit dem Chefkonservator Charles Mauricheau-Beaupré das Anwesen peu à peu wieder instand. Die vermauerten Rundbögen im Spiegelsaal wurden freigelegt, die zugenagelten und mit Sandsäcken verstellten Fenster geöffnet, Schafe grasten den überwucherten Grand Canal ab.
Doch mangels Heizung litt das alte Mauerwerk. Dazu kamen zunehmend häufige Erschütterungen durch die Flugzeuge erst der Luftwaffe, dann der RAF. Flugabwehrkanonen, die von den Terrassen aus auf Letztere feuerten, zeitigten im Wachsaal der Königin den Einsturz eines Teils der Decke. Mit der Rationierung von Lebensmitteln begannen Angestellte, jede verfügbare Parzelle des Parks zu beackern. „Das Einzige, was uns vor dem Hungertod rettet, sind die Gärten“, schrieb Mauricheau-Beaupré Anfang 1943. Nach der Landung der Alliierten in der Normandie wurde die Nachbarstadt Saint-Cyr durch ein Bombardement großteils zerstört; ein Wächter des Schlosses kam dabei zu Tode. Granaten fielen auch auf den Park. Geistliche und Politiker riefen beide Parteien auf, Versailles als offene Stadt anzusehen und seine Kunstschätze zu schonen. Am 25. August 1944 endete die nazideutsche Besetzung mit der Ankunft der 2. Panzerdivision des Generals Leclerc auf dem Endspurt nach Paris. Der alte Wächter Victorien Cessac hisste sogleich die Trikolore über dem Schloss. Die Besetzer hatten – gleichsam ein finaler Stinkefinger – auf dem Rückzug die Südostfassade mit dem Maschinengewehr beschossen; irreparable Schäden waren nach 1533 Tagen zum Glück nirgends zu beklagen.
Jetzt strömten britische und vor allem amerikanische Soldaten in Scharen nach Versailles, um sich vor der Kulisse des Königspalasts abknipsen zu lassen. Eine meterhohe Marmorvase ging dabei zu Bruch; schlimmer jedoch war das anhaltende Fehlen jeglicher Heizung, das Wasserschäden nach sich zog. In der Galerie des Batailles krochen Eis-Tentakel über drei großformatige Schlachtgemälde, Decken drohten erneut einzustürzen. Doch die Restaurierung des Riesenpalasts, eine Aufgabe ohne Ende, die noch längst nicht abgeschlossen ist, geht über den Gegenstand der Webserie hinaus.
„Versailles occupé“ basiert auf den in Buchform veröffentlichten Forschungen von Claire Bonnotte Khelil zum titelgebenden Thema, wendet sich aber klar ans große Publikum. Der Informationsgehalt ist gut verdaulich, die Erzählform gerafft, der Ton von sozusagen beschwingtem Ernst (als Sprecher fungiert der bekannte Schauspieler Denis Podalydès). Clou der Webserie sind die überaus zahlreichen bewegten und unbewegten Zeitaufnahmen in Schwarzweiß und Farbe. Man sieht da Teilnehmer der Friedenskonferenz von 1919, Wehrmachtssoldaten im noch abgedunkelten Spiegelsaal, Fahrradfahrer auf dem zugewachsenen Grand Canal, Fred Astaire und Dinah Shore bei einer Freiluftshow vor GIs im Park und sehr vieles mehr. Etliche dieser Bilder, die aus amerikanischen, deutschen und französischen Archiven stammen, waren bislang unveröffentlicht. Schade nur, dass die deutschen Untertitel anscheinend mit einen Übersetzungsprogramm generiert wurden: Vieles ist da unidiomatisch, manches schlichtweg sinnverfälschend. In Originalsprache ist die Serie indes von hoher Güte: Liebhaber des berühmtesten Schlosses der Welt lernen da viel Neues, Überraschendes.
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