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Ode an die Freude, humanitäre Walzerkette

Doppelter Saisonauftakt am Pariser Odéon-Theater mit Inszenierungen von Stéphane Braunschweig und Tiago Rodrigues

Freude ist Licht, Freude ist Wärme. Sie entspringt der funkenstiebenden Reibung zwischen Menschen, die in positiver Beziehung zueinander stehen. Freunde, Verwandte, Verliebte sind die Protagonisten des jüngsten Theaterstücks von Arne Lygre. In „Tyd for glede“ („Zeit für Freude“), Anfang des Jahrs in Oslo aus der Taufe gehoben, illustriert der Norweger, wie sich die Härten des Lebens mithilfe zwischenmenschlicher Bande weichschleifen lassen. „Härten des Lebens“ meint hier: Ehebruch, Fehlgeburt, Einsamkeit in der Fremde, Tod eines Angehörigen, Spannungen in der Familie, Ende einer Liebesbeziehung, Kinderlosigkeit wegen Unfruchtbarkeit. Menschliches Miteinander, sofern es auf einer Einstellung gründet, die auf der Skala der Gefühle zwischen verhaltenem Wohlwollen und flammender Liebe rangiert, schafft derlei Härten nicht aus der Welt. Aber es nimmt ihnen die Ecken und Kanten: Zwiegespräche und Gruppendiskussionen, geselliges Beieinander, Feiern und Gesänge lassen uns Menschen-Monaden zumindest momentweise unsere existentielle Geworfenheit vergessen. Sie bringen Licht und Wärme in unser Dasein.


Freu(n)de für den verlassenen David (in der Mitte: Pierric Plathier), von rechts nach links: die Mutter seines untergetauchten Lebensgefährten (Virginie Colemyn), seine Schwester (Cécile Coustillac) und eine Nachbarin mit ihrem neuen Geliebten (Chloé Réjon und Jean-Philippe Vidal) (Bild: Simon Gosselin)

Wirkt Lygres 2021 geschaffene Ode an die Freude für skandinavische Verhältnisse nicht eine Spur kalifornisch mit ihrem positiven Denken, ihrer Fixiertheit auf Gemeinschaftliches, ihrem – um einen umstrittenen Begriff zu gebrauchen – Gutmenschentum? Wie auch immer: Das Thema ist originell – und wie geschaffen für das gesteigerte Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Wärme in Post-Lockdown-Zeiten. In formaler Hinsicht besteht das Stück aus zwei eher lose geknüpften Ereignisketten. Im ersten Teil gesellt sich zu einer Mutter und ihrer Tochter auf einer Bank am Flussufer eine dritte, dann eine vierte, endlich eine achte Figur; jedes der drei Grüppchen, denen sie angehören, bringt seine eigenen Sorgen mit. Im zweiten Teil trudeln in die Wohnung eines neuen Protagonisten nach und nach geladene und ungeladene Gäste ein; auch hier stellt jeder Auftritt die thematischen Weichen ein wenig neu.


Eine Bank für viele Probleme: Das herbstliche Bühnenbild von Thibault Vancraenenbroeck ist schier das schönste an dieser Produktion zum Saisonbeginn. (Bild: Simon Gosselin)

Am Pariser Odéon – Théâtre de l’Europe war Arne Lygre, heute ein europaweit gespielter Dramatiker, 2007 auf Frankreichs Theaterkarte gesetzt worden, dank einer das Blut gefrieren machenden Inszenierung des Dreiakters „Mann ohne Aussichten“ durch den Bühnen-Schwarzkünstler Claude Régy. An deren eisige Wucht ist Stéphane Braunschweig, der derzeitige Intendant des Odéon-Theaters, in keiner seiner bis anhin fünf Lygre-Inszenierungen herangekommen. Die jüngste treibt „Zeit für Freude“ den volatilen Geheimnis-Gehalt durch einen Konversationsstück-Ton aus, der – zu atemlos, zu naturalistisch – der lichten, leichten Fremdheit den Garaus macht, die hier und da zwischen den Zeilen aufflimmert. Und auch im Vergleich zu Régys seinerzeitigen Schauspielern – Jean-Quentin Châtelain, Redjep Mitrovitsa, Bulle Ogier… – ist die Fallhöhe beträchtlich: In Braunschweigs Darsteller-Oktett besticht einzig Virginie Colemyn durch eine stimmliche, gestische und mimische Signalisierung, die den Zuschauer von der Autobahn weg auf interpretative Schleichwege schickt.


Zweiter Auftakt der neuen Spielzeit am Odéon war Tiago Rodrigues‘ Inszenierung seines eigenen Textes „Dans la mesure de l’impossible“ („Im Rahmen des Unmöglichen“). Nach dem Leiter von Frankreichs – nach der Comédie-Française – zweitem Staatstheater der frischgebackene Direktor des Festival d’Avignon: Auf dem Papier der Saisonbroschüre klang das vielversprechend. Doch auf den Bühnenbrettern erfüllte sich auch diese Verheißung nur bedingt. Laut Aussage des Autors kein Dokumentar-, sondern ein „dokumentiertes“ Stück, ist „Dans la mesure de l’impossible“ nach Gesprächen mit rund dreißig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und von Médecins sans frontières entstanden. Da stehen sie schon an der Rampe, repräsentiert durch zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler, an die sie ihre Wünsche richten: „Euer Stück sollte von dem handeln, was wir opfern“, „Ihr könntet vom Adrenalinkick angesichts der Gefahr sprechen“ „Es muss um Machtmissbrauch gehen“… Das Thema „humanitäre Hilfe“ ist gewiss nicht alltäglich, aber die Inszenierung des vierstimmigen Prologs könnte kommuner kaum sein: Abwechselnd richtet jeder Darsteller eine Replik ans Publikum, derweil die anderen darauf warten, an die Reihe zu kommen.


Rampentheater, von links nach rechts: Natacha Koutchoumov, Adrien Barazzone, Beatriz Brás, Baptiste Coustenoble (Bild: Magali Dougados)

Es folgen vierzehn Monologe, die fast alle eine oder mehrere während eines Auslandseinsatzes erlebte Geschichten erzählen. Es geht um eine Meuterei bei der Essenausgabe, um die Anzeige eines pädophilen Kollegen, um die schwierige Wahl des Empfängers des einzigen verfügbaren Blutbeutels, um die irreal stille Feuerpause während der Bergung eines Verletzten, um ehemalige Patienten, die einem das Leben retten oder rauben, um Stürme, Gerüche, Minztöpfe und Massengräber. Eine weiße Plane, die fast die ganze Bühne bedeckt, wird im Lauf der zwei Stunden an sechzehn Kabeln so hochgezogen, dass sie erst eine Miniaturberglandschaft, dann ein Riesenzeltdach bildet. Ein Schlagzeuger begleitet die Erzählungen mit leisem Grollen, hellen Holzklicks, Trommelwirbeln; spiegelbildlich zum Anfang beschließt ein vierstimmiger Epilog die Aufführung.


Das Zelt als Metapher: Nach ihrer Erstaufführung in Genf Anfang des Jahrs reist die Produktion der Comédie de Genève durch Frankreich sowie nach Lissabon, Madrid, Mailand, Taipeh, Udine… (Bild: Magali Dougados)

Das Ganze ist bühnenwirksam, dank längerer Passagen auf Englisch und Portugiesisch auch tourneetauglich. Aber wo die humanitären Arbeiter im Gespräch betont hatten, wie schwer sich ihre Erfahrungen vermitteln ließen, wählt Rodrigues den leichtesten Weg. Vieles hier wirkt irritierend bequem: Wiederholtes Augenzwinkern in Richtung Saal, um die „Theatralik“ des Erzähldispositivs herauszustreichen, darstellerische Gemeinplätze wie Tränen in der Stimme für Ergriffenheit und geiferndes Gebrüll für Empörung, sogar Floskeln wie „tragischer Tod“, „menschenleere Ruinen“, „unbarmherzige Kraft der Abwesenheit“. Das außergewöhnliche Material hätte eine fantasievollere Verarbeitung verdient als diese faule Formatierung.


So ruhen alle Erwartungen nunmehr auf dem dritten Auftakt des Pariser Saisonbeginns: auf Thomas Ostermeiers Inszenierung von Shakespeares „King Lear“ an der Comédie-Française. Ein Bericht folgt.

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